EU-Gipfel: Neuer Streit um Migration
29. Juni 2023Vor drei Wochen hatten die Innenministerinnen und Innenminister der Europäischen Union nach Jahren des Streits, eine Verschärfung der Asylverfahren an den EU-Außengrenzen beschlossen. Demnach müssten EU-Staaten eine bestimmte Anzahl Migranten aufnehmen oder wahlweise Ausgleichszahlungen von 20.000 Euro pro Migrant an die EU zu zahlen.
Die Einigung gegen die Stimmen von Polen und Ungarn hatten Bundesinnenministerin Nancy Faeser und viele andere Politiker in der EU als "historischern Durchbruch" gefeiert. Polen und Ungarn haben diese Verpflichtung abgelehnt und dies nun beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs in Brüssel wiederholt.
Polen: Grenzschutz statt Grenzverfahren
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki legte in Brüssel stattdessen einen neuen Plan vor, mit dem die Außengrenzen der EU durch die Grenzschutzagentur Frontex besser vor irregulärer Einwanderung geschützt werden sollen. Die Binnengrenzen in der EU zu öffnen, ohne ausreichenden Schutz der Außengrenzen sei ein strategischer Fehler gewesen, so der polnische Regierungschef. Polen hat eine Außengrenze mit der Ukraine, Belarus und Russland.
Die EU-Kommission legt großen Wert darauf, die Binnengrenzen in der Europäischen Union offen zu halten und das kontrollfreie Reisen in der Schengen-Zone zu ermöglichen. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser lehnt es beispielweise ab, Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze wieder einzuführen, um Migranten von der Weiterreise aus Polen nach Deutschlandzu hindern. Allerdings gibt es in der EU einige Binnengrenzen, an denen seit Jahren stichprobenartig kontrolliert wird, so zum Beispiel zwischen Österreichund Deutschland. Dort soll die Weiterreise von Migranten erschwert werden, die zuerst in Griechenland eingereist sind und dann über die Balkanroute weiterziehen.
Deutschland: Entscheidungen sind gefallen
Der Vorsitzende der EU-Gipfelrunde, Ratspräsident Charles Michel, hatte eigentlich eine kontroverse Diskussion über das umstrittene Thema Migration verhindern wollen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wies die ablehnende Haltung Polens und Ungarns zum jüngst geschnürten Asylreform-Paket indirekt zurück. Es gehe nun eher darum umzusetzen, was bereits beschlossen sei, sagte Scholz in Brüssel.
Das Asyl-Paket sieht die Registrierung aller Migranten an den Außengrenzen vor. Bewerber mit wenig Aussicht auf Asyl sollen in schnellen Verfahren vor Ort identifiziert und leicht wieder in sichere Herkunfts- oder Transitländer abgeschoben werden können. Rund 30.000 Bewerber mit Aussicht auf Asyl oder Flüchtlingsstatus sollen auf die übrigen Mitgliedsstaaten der EU verteilt werden. Die Quote dafür wird anhand der Einwohnerzahl und der Wirtschaftsleistung des Mitgliedslandes ermittelt. Länder wie Ungarn, die keine Migranten aufnehmen wollen, sollen zahlen.
Ungarn will nicht zahlen
"Das, was dort vereinbart wurde, ist ein Solidaritätsmechanismus, den wir schon lange gebraucht hätten in Europa. Er verlangt allen etwas ab", meinte Bundeskanzler Olaf Scholz zum Auftakt des Gipfeltreffens. "Jeder Staat, der glaubt, das ist ein Problem der anderen ... irgendwann könnte es das eigene werden." Damit spielte Olaf auf Scholz auf die Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban an, der bereits seit 2015 immer wieder sagt, die Migration sei ein deutsches Problem, weil die meisten Asylbewerber nun einmal nach Deutschland wollten.
Viktor Orban hatte vor dem Gipfeltreffen in mehreren Interviews angekündigt, seine Regierung werde sich nicht an die neuen Regeln halten, die von den EU-Innenministern vereinbart wurden. Ungarn werde keine Ausgleichsabgabe für nicht aufgenommene Migranten zahlen. Sein Land gebe schon genug Geld für die Sicherung der eigenen EU-Außengrenze aus und habe dafür kein Geld von der EU erhalten. Der ungarische Regierungschef, der schon vor Jahren einen Zaun und Asylbewerberlager an der Außengrenze zu Serbien errichten ließ, sprach sich dafür aus, die Grenzen der EU komplett für Migranten zu schließen und Asylbewerber außerhalb der EU auf eine Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung warten zu lassen. "Aber das kriegen wir Europäer ja nicht hin", hatte Orban der Bild-Zeitung gesagt.
Gesetzgebung kann noch dauern
Die Diskussion auf Chefebene könnte Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren zur Asylreform haben. Denn der Ministerrat, die Vertretung der Mitgliedsstaaten und das europäische Parlament müssen sich bis zum Ende des Jahres auf einen Gesetzestext einigen. Das Parlament hat in einigen Punkten noch Änderungswünsche. Die grünen Europaabgeordneten wollen zum Beispiel durchsetzen, dass Familien mit Kindern von den Verfahren in Lagern an der Grenze ausgenommen werden. Die Grünen in der Berliner Ampelkoalition mit SPD und FDP hatten starke Bedenken, dem Asylpaket der EU überhaupt zuzustimmen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will ebenfalls noch Änderungen durchsetzen, die sie im Kreis der Innenminister der EU nicht durchboxen konnte. Wenn jetzt auch Polen und Ungarn, Änderungswünsche anmelden, könnte der Zeitplan für die verschärften Verfahren ins Wanken kommen. Unmittelbare Auswirkungen auf die Flucht von Menschen in maroden Kuttern über das Mittelmeersind von den neuen Verfahren ohnehin nicht zu erwarten, sagen EU-Diplomaten. Eine "abschreckende" Wirkung werde erst nach einigen Jahren entstehen. Vor zwei Wochen war vor Griechenland ein Boot mit Flüchtlingenuntergegangen. Bis zu 500 Menschen sind dabei ertrunken.
Italien wünscht Abkommen mit Tunesien
Die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU wollten auch darüber beraten, wie man mehr Rückführungsabkommen für gescheiterte Asylbewerber mit ihren Heimatländern oder Transitländern schließen kann. Die aktuellen Bemühungen, das wirtschaftlich angeschlagene Tunesien mit rund einer Milliarde Euro an Hilfen zur Rücknahme von Migranten zu bewegen, sind festgefahren. Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni, deren Land das Hauptziel für Flüchtlingsschiffe aus Tunesien ist, drängt auf ein solches Abkommens. Deutschland bremst allerdings, da es für die Wirtschaftshilfen der EU von Tunesien verlangt, bestimmte Reformauflagen zu erfüllen. Dies wiederum lehnt der tunesische Präsident Kais Saied bislang ab.