EU-Gipfel entscheidet nichts
28. Mai 2014"Wir sollten auf die Wähler hören", hatte der französische Staatpräsident Francois Hollande noch kurz vor dem Gipfeltreffen gemahnt. Doch die Antwort an die Wähler, die vielen Staats- und Regierungschefs ein Anwachsen von rechts- und linkspopulistischen Anti-Europa-Parteien bei der Europawahl am Sonntag beschert hatten, fiel leise und bescheiden aus. Nach fünf Stunden Beratung verkündete EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, dass nicht entschieden werden konnte, ob der konservative Spitzenkandidat und Wahlgewinner Jean-Claude Juncker der nächste EU-Kommissionspräsident werden kann. So war es den Wählern im Wahlkampf suggeriert worden. Stattdessen starten die 28 Mitgliedsstaaten und die Fraktionen im Europäischen Parlament nun Konsultationen über die Personalfragen und die künftige Ausrichtung der EU-Politik, gab Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannt.
Lange "kameradschaftliche" Konsultationen geplant
Es soll ein Personalpaket geschnürt werden, das die großen Fraktionen, Konservative und Sozialisten, zufriedenstellt. Es soll neben dem EU-Kommissionspräsidenten auch den Präsidenten des Rates, den Außenbeauftragten und den Euro-Gruppen-Chef umfassen. "Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt in wirklich kameradschaftliche, vom Vertrag gebotene Konsultationen eintreten", sagte Angela Merkel vor der Presse und betonte das Wort "kameradschaftlich" mit einem mütterlichen Lächeln. Die Konsultationen sollen mindestens bis Ende Juni, bis zum nächsten regulären EU-Gipfel dauern. "Dann könnte es eine Grundlage für eine Entscheidung geben", frohlockte Merkel im Konjunktiv.
Der Europäische Rat, also die Versammlung der 28 Staats- und Regierungschefs, will sich das Heft des Handels nicht vom Parlament aus der Hand nehmen lassen. Der Lissabonner Grundlagen-Vertrag, der vorsieht, dass der Rat einen Kandidaten für den Spitzenjob unter Berücksichtigung der Europawahl vorschlägt, den das Parlament dann wählen kann, soll buchstabengetreu eingehalten werden. Darauf hatten vor allem der britische Premier David Cameron und der ungarische Premier Viktor Orban während des Gipfels bestanden.
Merkel pocht auf EU-Vertrag
Bundeskanzlerin Merkel schob noch gleich eine düstere Ahnung hinterher: "Wir haben alle die bittere Erfahrung gemacht in den letzten Jahren, dass das Nichteinhalten der Verträge, zum Beispiel beim Stabilitätspakt, uns an den Rand einer riesigen Katastrophe gebracht hat. Deshalb rate ich uns allen, sich an die Lissabonner Verträge bei den Entscheidungen über Personalien zu halten."
Sie sehe zwar noch keine Katastrophe, also eine gegenseitige Blockade der EU-Institutionen heraufdämmern, aber man müsse sich an die Spielregeln halten, sagte Merkel. "Für mich geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es geht hier um die Arbeitsfähigkeit von Rat, Parlament und Kommission in den nächsten fünf Jahren. In diesen fünf Jahren wird sich entscheiden, welche Rolle Europa künftig in der Welt spielt. Werden wir wettbewerbsfähig sein, werden wir Jobs haben, werden wir anerkannt sein? Oder werden wie die Herausforderungen nicht bestehen?"
Großbritannien sträubt sich
Angela Merkel versuchte außerdem, Forderungen abzufedern, die sowohl der britische Premier David Cameron als auch der französische Staatpräsident Francois Hollande beim Abendessen vortrugen. Beide verloren die Europawahlen in einer Art politischem Erdbebens an rechtspopulistische Parteien, die Ukip in Großbritannien und die Front National in Frankreich. Cameron verlangte lautstark einen völligen Richtungswechsel und einen Rückbau der Europäischen Union. "Europa sollte sich auf wichtige Dinge konzentrieren, auf Wachstum und Arbeitsplätze, und nicht versuchen, irgendwas zu tun. Wir müssen akzeptieren, dass Brüssel zu groß, zu selbstherrlich geworden ist und sich immer einmischt. Wir brauchen mehr für die Nationalstaaten. Die Nationalstaaten sollten, wenn möglich, handeln, Europa nur, wenn es nötig ist."
Staatspräsident Hollande hingegen will Europa wieder stärker mit den Bürgern verknüpfen. Europa müsse für mehr Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum sorgen, auch in Frankreich. Der Apparat in Brüssel dürfe nicht geschwächt werden, sondern er müsse nur besser organisiert werden, so Hollande. Änderungen der EU-Verträge seien nicht nötig.
"Juncker oder jeder andere"
Streit gab es beim Gipfel darüber, ob der ehemalige luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker für diese Aufgaben der richtige Mann ist. David Cameron nannte Juncker einen Mann von gestern. Bundeskanzlerin Merkel stärkte Juncker dagegen den Rücken. Er sei schließlich der Spitzenkandidat ihrer konservativen Parteienfamilie gewesen. Sie schloss aber nicht aus, dass am Ende der Europäische Rat auch eine andere Person als Juncker nominieren könnte. "Die ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen, durchgesetzt werden. Daran habe ich gar keinen Zweifel und trotzdem müssen wir jetzt die notwendigen Konsultationen führen."
Die Fraktionsführer des Europäischen Parlaments hatten sich vor dem Gipfel für Jean-Claude Juncker als neuen EU-Kommissionspräsidenten ausgesprochen. Der unterlegene Sozialist Martin Schulz gab nach und unterstützt jetzt auch Juncker. Im Parlament müsste sich zur Wahl des neuen Kommissionspräsidenten dann eine große Koalition aus Konservativen und Sozialisten zusammenfinden. Die europafeindlichen Parteien spielen bei der Mehrheitssuche keine Rolle. Der Chef der britischen Unabhängigkeitspartei, Nigel Farage, kritisierte nach der Sitzung der Fraktionsvorsitzenden, das sei "business as usual" gewesen. "Sie haben die Botschaft der Wähler nicht verstanden." Es werde weiter in Hinterzimmern gekungelt wie bisher.
Sozialist Martin Schulz soll nun offenbar mit einen hochrangigen Posten in der EU-Kommission, etwa als Stellvertreter Junckers, abgefunden werden. Das sei das Ergebnis der Absprache innerhalb der großen Koalition zwischen CDU, CSU und SPD in Deutschland, hieß es am Dienstag aus Parteikreisen in Brüssel. Schulz sagte der Deutschen Welle allerdings, er wolle erst einmal Fraktionschef der Sozialisten im Europäischen Parlament werden.