EU ist kein Wahlkampfthema in der Türkei
11. Juni 2011Je näher der Wahltermin am 12. Juni rückte, desto lauter wurden die Wahlkampf-Kundgebungen der Parteien, die sich Hoffnungen auf einen Einzug ins türkische Parlament machen. Bei ihrem Schlagabtausch konzentrierten sich die Parteien jedoch eher auf Themen wie Korruption, Unregelmäßigkeiten bei landesweiten Aufnahmeprüfungen der Universitäten oder auf einige über Youtube verbreiteten obszönen Videos mit führenden Vertreter der rechtsextremistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) von Devlet Bahceli. Keine einzige Partei nahm das Wort EU in den Mund, niemand erläuterte seine Haltung zum zumindest offiziell immer noch obersten Ziel der türkischen Außenpolitik, der EU-Mitgliedschaft.
Die Generalsekretärin der auf Europafragen spezialisierten Stiftung für Wirtschaftliche Entwicklung in Istanbul, Cigdem Nas, führt das auf das Fehlen einer EU-Perspektive bei den Parteien zurück. "Wir sehen, dass die türkische Öffentlichkeit am Thema EU und den Beitrittsbemühungen das Interesse verloren hat", sagt sie, "das Thema EU ist im Wahlkampf von anderen Dingen überlagert worden. Vielleicht liegt das daran, dass die Beitrittsverhandlungen ins Stocken geraten sind oder andere große Probleme überwunden werden müssen, glaubt Cigdem Nas.
Zypern-Konflikt als Bremse
Die Beitrittsverhandlungen gerieten vor allem wegen des Zypern-Konflikts ins Stocken. Nas zufolge hat die türkische Öffentlichkeit das Vertrauen in die EU verloren. Der Hintergrund sei, dass in der türkischen Wahrnehmung der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy mit Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Anti-Türkei-Front anführe.
Der Vorsitzende der Stiftung Türkei-Europa, Ziya Müezzinoglu, macht Vorurteile, die auf beiden Seiten herrschen, dafür verantwortlich, dass die Zustimmung für einen EU-Beitritt in der Türkei abgeschwächt sei. "Wir sehen einerseits, dass in den EU-Ländern einige Vorurteile gegen die Türkei immer noch nicht ausgeräumt worden sind. Manche EU-Länder führen die Beitrittsverhandlungen in die Sackgasse, indem kulturelle und religiöse Unterschiede in den innenpolitischen Auseinandersetzungen als Argumente gegen die Türkei benutzt worden sind. Andererseits gibt es aber auch in manchen Kreisen in der Türkei Vorurteile gegen die EU. So werde die EU als ein "Christen-Club" gesehen, sagt Müezzinoglu.
Neue Orientierung der Türkei
Während die Beitrittsverhandlungen stillstehen, versucht die Türkei, eine Vorreiterrolle im Nahen Osten zu übernehmen. Zudem vergrößern die Aufstände in den arabischen Ländern die Bedeutung der Türkei. Die Europa-Expertin Nas glaubt, dass der Außenminister Ahmet Davutoglu die Türkei durch eine aktivere Rolle in der Region attraktiver für Europa machen wolle. Sehr viel werde aber am Ende von den Wahlergebnissen abhängen, sagt sie: "Wenn die konservative Partei AKP von Ministerpräsident Erdogan einen hohen Stimmenanteil erzielt, werden ihre Bemühungen, die eigene Existenz zu rechtfertigen, in den Hintergrund treten. Wenn sie aber weniger Stimmen bekommt als erwartet, wird für sie das EU-Ziel wieder wichtiger werden. Die AKP hat in der Vergangenheit eine EU-Mitgliedschaft unterstützt, um denjenigen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die der Partei Islamismus und eine getarnte Agenda unterstellt hatten - als ob die AKP sagen wollte: 'Wir arbeiten für die EU.'"
Die Parlamentskandidaten der AKP sind jedoch der Auffassung, dass ihre Partei vom EU-Ziel nach wie vor nicht abgewichen sei. Die Kandidatin aus Istanbul, Belma Satir, betont: "Ich bin ein Mitglied des Teams, das in den Gründungstagen der AKP das Parteiprogramm mitgestaltet hat. Die EU ist in unserem Parteiprogramm unser wichtigstes Thema."
Autorin: Hülya Köylü
Redaktion: Zoran Arbutina