EU-Klimaziele 2040: sind 1,5 Grad in Reichweite?
15. Juni 2023Klimaneutralität bis 2050, das ist das ausgewiesene Ziel der Europäischen Union. Wie man dies erreichen will, wird seit Jahren debattiert. Dazu sollen von den EU-Institutionen demnächst wichtige Zwischenziele bis 2040 festgelegt werden. Die wissenschaftliche Basis und Empfehlungen dafür liefert der neueste Bericht des European Scientific Advisory Board on Climate Change, des Klimabeirats der EU.
Der Beirat, ein internationales und multidisziplinäres Forscherteam, rät dem Block eine Reduzierung seiner klimaschädlichen Treibhausgasemissionen von mindestens 90 Prozent, im Idealfall 95 Prozent, bis 2040. "Diese Einsparungen sind für die Abfederung von Klimarisiken und die Gewährleistung einer nachhaltigen Zukunft unerlässlich," so die Forscherinnen und Forscher.
Für ihre Empfehlungen haben die Wissenschaftler mehr als 1000 Klimaszenarien untersucht und Durchführbarkeit, Umweltrisiken und Herausforderungen im Zusammenhang mit dem kurzfristigen Ausbau von Technologien, wie Solarenergie, Windkraft und Energiegewinnung aus Wasserstoff überprüft.
Dabei kommen fünf realistische Szenarien in Frage, die zum einen mit den Verpflichtungen der EU im Pariser Klimaabkommen und den eigenen Klimazielen vereinbar sind und auch technologisch nur geringe Risiken für die Umwelt bergen.
Mit oder ohne Atomenergie - viel Spielraum um Klimaziele zu erreichen
Der Klimabeirat der Europäischen Union wurde 2021 im Zuge der Verabschiedung des EU-Klimagesetztes gegründet. Das Gesetz ist die Grundlage, um die mittel- und langfristigen Klimaziele der EU mit Hilfe des EU-Greendeals zu realisieren. Der Rat ordnet die klimapolitischen Maßnahmen der EU wissenschaftlich ein und gibt Empfehlung, wie die 27 Mitgliedsländer ihre Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Klimaabkommens einhalten können.
Bis 2030 will die Staatengemeinschaft im Vergleich zu 1990 mindestens 55 Prozent weniger klimaschädliche Emissionen ausstoßen, bis 2050 sollen dann die Industrie und die Gesellschaft komplett klimaneutral sein. Emissionen, die dann immer noch anfallen, müssen durch Maßnahmen, die CO2 aus der Atmosphäre herausholen, ausgeglichen werden.
Das kann zum Beispiel durch das Aufforsten von Wäldern und der Sanierung beschädigter CO2-Senken wie zum Beispiel Moore und Torfböden funktionieren, denn beide Ökosysteme können im gesunden Zustand Kohlenstoff dauerhaft speichern.
Gleichzeitig investieren Staaten derzeit vermehrt in die sogenannte Carbon Capture and Storage Technologie (CCS) mit der man in Zukunft Kohlenstoff aus der Atmosphäre absaugen und unter der Erde speichern will. Die Technologie gilt allerdings als umstritten.
Klimaneutralität: Viele politische und technologische Methoden möglich
Die Wissenschaftler des Beirats unterstreichen, dass es viel politischen Spielraum gebe, um die Klimaziele zu erreichen. Einige der Szenarien setzen mehr auf Technologien wie CCS und Atomenergie, andere kommen ohne Atomkraft aus. Ottmar Edenhofer, Vorsitzender des Beirats und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung betont, "dass nach den Szenarien die Kernenergie keine unumgängliche Variante ist. Hier gibt es also Raum für politische Positionen."
Für alle Wege seien sorgfältige Abwägung, flexible Mechanismen und politische Steuerung nötig, ergänzt Laura Diaz Anadon, stellvertrende Vorsitzende des Beirats. Alle Szenarien würden "zahlreiche weitere Vorteile mit sich bringen, darunter erhebliche Verbesserungen im Gesundheitsbereich und eine höhere Energiesicherheit."
Grundlegend für alle erfolgsversprechenden Szenarien ist der fast vollständige europaweite Kohleausstieg bis 2030 und der Gasausstieg bis 2040. Statt auf fossiler Energieträger angewiesen zu sein, müssten große Teile der Gesellschaft und der Industrie auf erneuerbaren Strom als Energiequelle umsteigen. Während Technologien wie CCS noch nicht vollständig marktreif sind, könnten derzeit noch bestehende Hürden beim Ausbau von Wind- und Fotovoltaikanlagen "mit ehrgeizigen politischen Maßnahmen überwunden werden", ist Edenhofer überzeugt.
Was ist fairer Klimaschutz?
Folgt die EU den Empfehlungen, würde sich die Staatengemeinschaft laut der Forscher nicht nur auf den Pfad begeben das Ziel "klimaneutralität" bis 2050 zu erreichen, sondern mit Blick auf seinen historische Verantwortung als Mit-Verursacher des Klimawandels einen fairen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.
Hier bestünde dennoch ein Lücke, heißt es im Bericht. Auch weil die EU nach einigen Berechnungsmodellen sein CO2-Budget für das Erreichen des 1,5 Grad Ziels bereits aufgebraucht hat.
Der globale Norden und vor allem westliche Staaten haben ihren Gesellschaften durch die Industrialisierung im vergangenen Jahrhundert zu großem Wohlstand verholfen und dabei riesige Mengen klimaschädliche Kohle, Öl und Gas verbrannt.
Heute sind besonders Länder im globalen Süden von den Folgen der Klimakrise betroffen. Sie fordern deshalb mehr Ambitionen und finanziellen Ausgleich durch reiche Länder.
Will die EU seinen fairen Anteil zum Klimaschutz leisten, müsste man daher auch außerhalb Europas aktiver werden, heißt es im Bericht. Dies könnten zum Beispiel Investitionen in die Energiewende oder technologische Unterstützung anderer Staaten beim Aufbau einer Solar- und Windindustrie sein.
EU-Green Deal hinkt eigenen Ansprüchen noch hinterher
Bisher plant die EU bis 2030 seine Energie zu 40 Prozent aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Außerdem will man den Verkehr weitestgehend elektrifizieren, den Energieverbrauch um mehr als 35 Prozent zu reduzieren, mehr Anreize für die energetische Sanierung von Gebäuden zu schaffen und natürliche Ressourcen und Kohlenstoffspeicher zu schützen.
"Die offene Wahrheit ist, dass die Welt nicht auf dem richtigen Weg ist, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen", sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, Architekt des Green Deal im November 2022. "Wir brauchen mehr ehrgeizigere Ziele."
Zwar hatte Timmermans bei der Klimakonferenz in Scharm El-Scheich im vergangenen November angekündigt, die EU wolle bis 2030 mehr als 55 Prozent weniger CO2 ausstoßen, ein Blick auf die konkreten Maßnahmen verrät allerdings, dass dieses Ziel bisher nicht erreicht werden wird. Bei optimaler Umsetzung der bestehenden Maßnahmen wird die EU bis zum Ende des laufenden Jahrzehnts maximal 47 Prozent einsparen.
Würde das 2030 Ziel jedoch erreicht, sind auch die Ziel für 2040 und für 2050 in Reichweite. "Das ist ein ziemlich solider Weg, der nicht nur mit den internationalen Zielen, sondern auch mit den Werten und der Gesetzgebung der EU im Einklang steht. In diesem Sinne wäre es also ein großer Erfolg, wenn diese Ziele umgesetzt würden", so Edenhofer.
Bis Mitte 2024 wird die Europäische Kommission auf Basis der Empfehlungen, den Interessen der Mitgliedsländer, der Industrie und der Zivilgesellschaft neue Klimaziele für 2040 ausarbeiten sowie konkrete Vorschläge machen, wie diese erreicht werden sollen.