EU-Lager statt Flüchtlingsaufnahme
16. September 2020Wieder einmal geht Deutschland voran und nimmt Flüchtlinge und Migranten von den griechischen Inseln auf. In Deutschland gibt es einen regelrechten Überbietungswettbewerb bei der Aufnahmebereitschaft: SPD-Chefin Saskia Esken forderte eine "hohe vierstellige" Zahl von Geflüchteten aufzunehmen, die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt nannte die Zahl 5000. Auch Kirchenvertreter, Hilfsorganisationen, aufnahmebereite Kommunen und Bundesländer finden, Deutschland müsse deutlich mehr Menschen aus dem zerstörten Lager Moria aufnehmen als die am Dienstag zugesagten 1553.
Innenminister Horst Seehofer von der CSU aber bremst, aus zwei Gründen: Er will Migranten nicht signalisieren, dass sie den normalen Weg zur Anerkennung ihres Asylstatus umgehen können. Und er will eine europäische Lösung der gesamten Migrationsfrage. Und die Bundesregierung soll die möglichst während der laufenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft finden. Deutsche Alleingänge, so sein Kalkül, erschweren eine europäische Lösung. Mathias Middelberg, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, sagte der Deutschen Welle: "Es darf nicht der Eindruck entstehen, Deutschland löst die Migrationsfrage schon allein."
Deutschland: ziemlich allein im europäischen Haus
Die Reaktionen in anderen europäischen Staaten scheinen diese Haltung zu bestätigen. Die üblichen Verweigerer jeder Flüchtlingsaufnahme, etwa Ungarn und Polen, rühren sich ohnehin nicht. Aber auch von anderer Seite kommt entweder nur Desinteresse oder sogar offener Widerstand.
Die Niederlande beispielsweise wollen nur 100 Menschen aufnehmen, sich diese Zahl aber auf ein UNHCR-Kontingent anrechnen lassen. Unter dem Strich würde das Land damit keinen einzigen Flüchtling zusätzlich aufnehmen. Noch ablehnender zeigt sich Österreich, obwohl hier die grundsätzlich aufnahmefreundlichen Grünen an der Regierung beteiligt sind. Der konservative österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz will ausdrücklich "dem deutschen Weg nicht folgen". Stattdessen will Österreich Hilfe auf Lesbos leisten. Außenminister Alexander Schallenberg gab zu bedenken, wenn Moria durch Verteilung der Migranten auf europäische Länder geräumt werde, wäre es bald wieder voll.
Innenpolitiker Middelberg teilt diese Einschätzung. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen: "Wer es auf die Inseln schafft, dem steht der Weg in das Wunschzielland in Europa offen."
Das Migrationsthema ist in Europa nach wie vor ein heißes Eisen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mehrfach versichert, die Situation von 2015, als in kurzer Zeit Hunderttausende weitgehend unkontrolliert nach Deutschland kamen, "darf und wird sich nicht wiederholen".
CDU spricht von Pilotprojekt
Es könnte nun sein, dass der Streit um das zerstörte Lager Moria die Debatte in der EU um eine Asylreform verändern wird. Denn bisherige Appelle zur Aufnahme von Geflüchteten sind nahezu wirkungslos verhallt. Stattdessen denken sowohl EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als auch Bundeskanzlerin Merkel an Lager auf den griechischen Inseln. Die sollen gemeinsam von der EU und Griechenland geführt werden. Die EU würde für europäische Standards sorgen. Dort würden auch alle Asylanträge geprüft. Nur wer Asyl bekommt, soll die Inseln Richtung Festland verlassen dürfen. Abgelehnte Asylbewerber sollen zurückgeschickt werden. Das ist letztlich genau das, was das 2016 mit der Türkei ausgehandelte Flüchtlingsabkommen vorsieht.
"Das neue Aufnahmezentrum auf Lesbos kann ein Pilotprojekt sein für eine europäische Flüchtlingspolitik in der Praxis. Zügige Verfahren an der Außengrenze sollen eine rasche Entscheidung über die Aufnahme oder Rückführung einer Person ermöglichen", lobt Mathias Middelberg die Idee. Sie wird auch beim Entwurf einer Asylreform eine Rolle spielen, die von der Leyen kommende Woche vorlegen will.
Hohe Ablehnungsquote
Diese Ideen sind allerdings weit von dem entfernt, was die Migranten und Flüchtlinge auf den griechischen Inseln hören wollen. Sie hoffen, nach dem Brand die Insel verlassen zu können, unabhängig vom Asylentscheid. Die griechischen Behörden gehen davon aus, dass Migranten das Feuer gelegt haben, um so ihren Umzug aufs Festland zu erzwingen. "Moria-Taktik" nennt das die Regierung in Athen. Mehrere Afghanen wurden inzwischen wegen des Vorwurfs der Brandstiftung festgenommen. Darunter sind auch zwei Minderjährige, die nach dem Feuer zu ihrem Schutz aufs Festland gebracht wurden. Der stellvertretende Migrationsminister Giorgios Koumoutsakos sagte nach dem Brand: "Wer denkt, er könne zum Festland und dann nach Deutschland reisen, der soll es vergessen."
Die Rolle der EU auf den Inseln ist nicht ganz neu. Bereits jetzt ist die EU-Asylbehörde Easo in den Lagern vertreten. Sie unterstützt die griechischen Behörden bei der Asylentscheidung. Die Aufgabe ist bereits gewaltig. Nach Angaben der EU-Kommission warten allein auf Lesbos 11.000 Menschen auf einen Asylentscheid. 1400 wurde Schutz zugesagt, bei 900 wurde der Antrag in zweiter Instanz abgelehnt. Manfred Weber, Fraktionschef der EVP im Europaparlament, hat kürzlich von einer Ablehnungsquote von rund 60 Prozent an den Außengrenzen gesprochen.
In diesem Jahr sind nach UNHCR-Angaben knapp 10.000 Menschen illegal von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln übergesetzt. Das sind wesentlich weniger als in den Jahren zuvor. Doch die Türkei, die wegen Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer mit Griechenland im Konflikt liegt, hat mit der Migration einen mächtigen Hebel in der Hand. Ankara könnte dafür sorgen, dass bald wieder mehr Menschen die illegale Überfahrt wagen.