EU lässt Ukraine bei Luftabwehr gegen Russland warten
22. April 2024Die Luftangriffe Russlands gegen zivile Infrastruktur wie Kraftwerke und gegen Stellungen der ukrainischen Armee gehen mit Drohnen, Gleitbomben und Raketen unvermindert weiter. Die ukrainische Regierung fordert und bittet mit teilweise emotionalen Appellen um mehr Gerät für Luftverteidigung bei den westlichen Verbündeten. Bei der NATO-Tagung der Außenminister vor zwei Wochen und beim EU-Gipfel in Brüssel, beim G7-Außenministertreffen in Capri letzte Woche und nun auch wieder beim EU-Treffen der Verteidigungs- und Außenminister in Luxemburg.
"Es müssen Entscheidungen fallen"
Die Botschaft ist immer die gleiche: Die Ukraine braucht dringend Luftabwehrsysteme mittlerer und kürzerer Reichweite von Typ Patriot oder Iris T, um der russischen Aggression etwas entgegenzusetzen. Außerdem fehlt es nach wie vor an ausreichend Munition auch für die Artillerie an der Frontlinie. Die Antwort der westlichen Verbündeten ist auch seit Wochen die gleiche: Wir bemühen uns so schnell wir können, Waffensysteme und Munition aufzutreiben, die der Westen entbehren kann, ohne selbst völlig schutzlos dazustehen.
Die Frustration darüber sitzt nicht nur beim ukrainischen Außenminister Dymtro Kuleba tief, der heute wieder per Video nach Luxemburg zugeschaltet war. Auch dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell geht die Geduld mit den zögerlichen Regierungen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten aus. "Ich habe keine Patriot-Abwehrsysteme in Brüssel, die müssen schon aus den Mitgliedsstaaten kommen", zürnte Borrell nach der Sitzung heute, in der wieder keine konkreten Beschlüsse fielen. "Das müsste alles schneller gehen." Jedem sei klar, wie dringend die Entscheidungen wären.
Auch der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski machte deutlich, dass Abwehrsysteme, die heute in Westeuropa eingesetzt seien, besser in die Ukraine verlegt werden sollten.
Luftabwehrraketen für die Ukraine dringend gesucht
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte den Bedarf seines Landes für weiter reichende Abwehrsysteme vom Typ Patriot auf 24 beziffert, um das gesamte Territorium schützen zu können. Sein Außenminister Kuleba würde sich erst einmal mit sechs Systemen zufriedengeben, die aber sofort bereitgestellt werden müssten. Zurzeit sind wohl drei US-amerikanische und drei deutsche Patriotsysteme in der Ukraine im Einsatz. Ein weiteres Waffensystem aus deutschen Beständen ist zugesagt.
Deutschland kann offenbar als einziges Land in Europa derzeit Patriots entbehren. Andere Staaten wie die Niederlande, Spanien, Griechenland, Rumänien, Schweden und Polen besitzen die aus den USA gelieferten modernen Abwehrsysteme ebenfalls. Allerdings in so geringer Stückzahl, dass viele Außen- und Verteidigungsminister sie nicht hergeben wollen.
Baerbock: "Die Bestände sind erschöpft"
Die niederländische Verteidigungsministerin Kajso Ollogren versicherte in Luxemburg, sie tue bereits genug und suche nun intensiv nach Möglichkeiten, um noch mehr liefern zu können. Der spanische Außenminister Jose Manuel Albares äußerte sich nicht konkret auf entsprechende Reporterfragen. Es sei nicht gut, öffentlich darüber zu reden, was man liefern könne und wann. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte, man versuche seit Monaten, zusätzliche Ausrüstung zu finden, aber "die eigenen Bestände sind erschöpft".
Deutschland verfügt über insgesamt zwölf Patriotsysteme, von denen bald vier in der Ukraine stationiert sein werden. Acht verbliebene Systeme reichen für die Luftverteidigung zuhause nicht aus. Zwölf übrigens auch nicht. Denn die Systeme sind nicht als flächendeckende Abwehr zum Schutz der Zivilbevölkerung konzipiert worden, sondern als mobile Einheiten, um einzelne Städte oder große eigene Truppenverbände zu schützen.
Neben den Patriotsystemen setzt die Ukraine auch vier Abwehrsysteme vom Typ Iris T aus deutscher Produktion ein. Die brandneuen Systeme waren noch gar nicht bei der Bundeswehr im Einsatz, sondern wurden gleich an die Ukraine geliefert. Weitere sollen folgen.
Aus Norwegen, Italien, Frankreich und den USA hat die Ukraine eine kleine Anzahl von Abwehrsystemen vom Typ NASAM erhalten, die eine geringere Reichweite haben. In der von den USA auf den Weg gebrachten Militärhilfe in Höhe von 61 Milliarden Dollar ist immerhin Munition für diese NASAM und auch für Patriot-Raketen enthalten. Jeder Schuss mit einer Patriot kostet rund vier Millionen Dollar. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies darauf hin, dass es nicht auf die bloße Zahl der Abwehrsysteme ankomme, sondern auch darauf, sie zu warten und mit ausreichend viel Munition bestücken zu können.
Nächste Chance: Ramstein-Konferenz
Konkrete Zusagen für Hilfen der europäischen Verbündeten soll es nun möglicherweise Ende der Woche beim regelmäßigen Treffen der sogenannten Ramstein-Gruppe geben. Dort sind alle Staaten zusammengeschlossen, die die Ukraine seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren mit Waffen und Ausrüstung beliefern und ukrainische Soldaten ausbilden. Die Gruppe ist keine Einrichtung der NATO, sondern tagt unter Vorsitz der USA. Benannt wurde sie nach dem ersten Tagungsort, dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland.
Wie sehr die Fähigkeit der ukrainischen Luftabwehr schwindet, russische Raketen, Gleitbomben oder Drohnen abfangen zu können, rechnet der amerikanische Thinktank Rand in einer Studie vor. Die Abwehrquote sei bei den jüngsten massiven Angriffswellen auf unter 50 Prozent gefallen. Deshalb seien bis zu 80 Prozent der Stromerzeugung in der Ukraine ausgefallen. Britische Militärexperten am Royal United Services Institute gehen davon aus, dass die ukrainische Armee pro Tag nur 2000 Granaten und Geschosse größeren Kalibers abfeuern kann. Russland dagegen habe Tag für Tag bis zu 10.000 Geschosse zur Verfügung.