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Endstation Tunesien?

Kersten Knipp | Tarak Guizani (Tunis)
18. Juli 2023

Viele Migranten aus Subsahara-Afrika werden weiterhin versuchen, mit dem Boot nach Europa überzusetzen. Vom EU-Migrationsabkommen mit Tunesien zeigen sich Betroffene eher unbeeindruckt. Eine DW-Recherche.

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Verletzter Migrant aus Subsahara-Afrika liegt auf dem Boden einer Flüchtlingsunterkunft in Tunesien in Ben Guerdane
Ein verletzter Migrant aus Subsahara-Afrika liegt auf dem Boden einer improvisierten Flüchtlingsunterkunft in Ben Guedane in TunesienBild: FATHI NASRI/AFP

Am liebsten würde er nach Nigeria zurückkehren, sagt Victor Ambedane. Seit einem halben Jahr halte er sich inzwischen in Tunesien auf, sagt er.

Zweimal habe er versucht, das Meer zu überqueren, zweimal sei er gescheitert, das letzte Mal darüber hinaus auch bestohlen worden: "Kürzlich wurden wir von der Mafia angegriffen. Sie haben mein Handy, mein Geld und alles andere gestohlen, seit einer Woche schlafe ich auf der Straße."

Von dem am 16. Juli unterzeichneten Migrationsabkommen zwischen Tunesien und der EU hat Victor noch nichts gehört. Aber schon jetzt hat er seine Pläne aufgegeben, auch ohne Zutun der EU oder der tunesischen Regierung.

"Ich weiß jetzt nicht mehr, was ich tun soll", sagt er der DW.  "Ich denke nicht mehr daran, nach Europa zu gehen."

Noch basiert das Partnerschaftsabkommen zwischen Tunesien und der EU auf einer reinen Absichtserklärung, die von den einzelnen europäischen Staaten noch zu unterzeichnen ist. Doch schon jetzt zeige sich, in welche Richtung es ziele, beklagen Menschenrechtler auf beiden Seiten des Mittelmeers - nämlich zu einer weiteren Einschränkung von Migrations- und Fluchtmöglichkeiten.

Tunesien Sfax Flüchtling Victor
"Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll": Victor, Flüchtling aus aus Nigeria, in TunesienBild: Wahed Dahech

Das Abkommen sei eine "einseitige europäische Vision", kritisiert Ramadan Ben Omar vom Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte. Das Memorandum sei unter nicht-demokratischen Umständen unterzeichnet worden, sagt er mit Blick auf Präsident Kais Saied, der demokratische Rechte und Strukturen immer stärker eingeschränkt hat.

In erster Linie gehe es den Europäern um die Einhegung der irregulären Migration. Dass die beabsichtigte Übereinkunft auch ein umfangreiches Förderprogramm für die tunesische Wirtschaft umfasst, diene allein "kosmetischen Zwecken", so Ben Omar gegenüber der DW.

"Vereinbarung zwischen der EU und einer einzigen Person": Eine aus Tunesien berichtende Korrespondentin kritisiert den aus ihrer Sicht politisch nicht hinreichend legitimierten Charakter des "Migrationsdeals".

Ähnlich sieht es Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von Pro Asyl. "Wir sehen, dass ein Partner der EU mit Hasstiraden gegen die Subsahara-Flüchtlinge agiert. Wir sehen, dass Hunderte Menschen in der Wüste Richtung Libyen ausgesetzt wurden. Ein Deal unter solchen Umständen lässt nichts Gutes erwarten. Es geht ganz offenbar darum, dass ein Autokrat Bootsflüchtlinge in Richtung Europa abfangen soll."

Mit aller Härte gegen Flüchtlinge

Tatsächlich ging der tunesische Präsident in den letzten Wochen mit aller Härte gegen Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika vor. So gab es gewaltsame Zusammenstöße zwischen afrikanischen Migranten und Einheimischen in der Stadt Sfax.

Zudem setzten die tunesischen Behörden erst vor wenigen Tagen rund 800 Geflüchtete an der Grenze zu Libyen, mitten in der Wüste, aus. Andere Geflüchtete wurden an die Grenze zu Algerien gebracht, eine ebenfalls lebensfeindliche Region.

Erst Tage später kümmerten sich die Behörden um die ausgesetzten Menschen. Laut einem unbestätigten Bericht von Al-Jazeera soll es auch Todesopfer gegeben haben.

Am Montag (17.07.) forderte die Menschenrechtsgruppe 'Arab Organization for Human Rights' (AOHR) internationale Organisationen dazu auf, rund 360 Gerettete aus Tunesien zu versorgen. "Nach Angaben libyscher Grenzschützer brauchen 360 Migranten, darunter Frauen und Kinder, dringend humanitäre und medizinische Hilfe", teilte AOHR mit.

Berichten der Nachrichtenagentur AFP zufolge hatten libysche Grenzschützer zuvor dutzende Migranten gerettet, die ohne Wasser, Nahrung oder Unterkunft auf tunesischer Seite im Wüsten-Grenzgebiet zurückgelassen worden waren. Die AFP-Journalisten berichteten, sie hätten gesehen, wie Flüchtlinge in der Nähe des Grenzortes Al-Assah umherirrten. Demnach waren sie sichtlich erschöpft, lagen durstig im Sand und suchten bei Temperaturen von über 40 Grad Schutz unter spärlichen Sträuchern.

Ein am Boden ausruhendes Flüchtlingskind aus Subsahara-Afrika in der tunesischen Hafenstadt Sfax
Erschöpft: Ein Kind aus Subsahara-Afrika in der tunesischen Hafenstadt SfaxBild: Wahed Dahech

"Konjunkturprogramm für Schlepperindustrie"

Tunesiens fragwürdiger Umgang mit Geflüchteten und Migranten dürfte sich infolge des "Migrationsdeals" fortsetzen, fürchtet Aktivist Ramadan Ben Omar. Denn dieser baue die tunesische Kontrolle über die Küsten aus und verwandle  das Land faktisch in eine Institution des europäischen Grenzschutzes. Er befürchtet, dass die Abschiebung über die Einrichtung von Auffanglagern organisiert werden könnte, obwohl Tunesien diese Idee zuvor abgelehnt hatte.

Auch die Erklärung der EU, sie wolle vor allem gegen die Schlepperindustrie vorgehen, sei wenig glaubwürdig, ergänzt Karl Kopp von Pro Asyl: "Wer die Schlepper bekämpfen will, müsste eigentlich legale Wege offerieren. Wenn man sich aber nur abschottet, betreibt man eher ein Konjunkturprogramm für die Schlepperindustrie: Der Kampf gegen die Schlepperindustrie ist damit eher ein Kampf gegen Schutzsuchende. Sie sollen nie in Europa ankommen."

In der tunesischen Wüste ausgesetzte Flüchtlinge
In der tunesischen Wüste ausgesetzte MigrantenBild: Mahmud Turkia/AFP

Letztlich werde sich das Abkommen auch gegen tunesische Migranten selbst richten, erwartet der Politologe Tarek Megerisi vom 'European Council on Foreign Relations' (ECFR). "Es wird wenig dazu beitragen, die Migration zu stoppen, sondern es den Europäern lediglich erleichtern, die Tunesier, die die Reise überleben, zurückzuschicken", so Megerisi in einem Statement, das über die Kommunikationsagentur 'Apollo Communications' verbreitet wurde.

Eine Journalistin in Tunesien kritisiert die mangelnde Transparenz des Migrationsdeals. Dieses werde Tunesien in eine Art Friedhof unter freiem Himmel für Migranten aus der Subsahara verwandeln, kritisiert sie auf Twitter.

"Wir wollen nicht zurück"

Auch Meriem Taba in der tunesischen Hafenstadt Sfax hat bisher noch nichts von dem Migrationsdeal zwischen der EU und Tunesien gehört. Anders als Victor Ambedane aus Nigeria will sie aber trotzdem weiterhin versuchen, Europa zu erreichen, und sich keinesfalls aufhalten lassen, auch wenn dies schwer sei.

Sie sei seit zweieinhalb Monaten in Tunesien, sagt die aus Guinea stammende Frau der DW. "Ich wurde zweimal verhaftet. Bisher läuft es nicht gut. Wir sind müde."

Dennoch möchte sie genau die Route nach Europa nehmen, deren Nutzung die EU mit Hilfe Tunesiens nun zumindest massiv erschweren möchte - die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer in Richtung Italien. "Wir wollen unseren Familien helfen", sagt sie. "Wir wollen nicht nach Hause zurück." 

Mitarbeit: Wahid Dahech, Sfax, Tunesien

Hetze gegen Migranten aus Subsahara

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien