EU oder ASEAN: Was ist das bessere Modell?
1. November 20171967 war ein besonderes Jahr in der Geschichte regionaler Integration. Die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN wurde gegründet und die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte ihre erste Etappe zur tiefen Integration mit der Einrichtung einer Zollunion mit einem gemeinsamen Außenzoll für viele Industriegüter abgeschlossen. Seither hat die EU-Kommission die Verhandlungskompetenz bei den sogenannten GATT-Runden über Zollabbau.
Zu dieser gemeinsamen Politik kamen über die Jahre viele weitere Politiken hinzu. Die EU entwickelte sich auf der Basis von sanktionsbewehrten Regeln von der Freihandelszone über die Zollunion und den Gemeinsamen Markt (Freizügigkeit für Kapital und später Arbeit) zur Wirtschaftsgemeinschaft mit vielen neuen Kompetenzen für die Kommission. Die Währungsunion sollte das Vehikel für mehr unumkehrbare Integration werden. Gleichzeitig wurden viele neue Mitglieder aufgenommen.
Vor 20 Jahren: Bewährungsprobe Asienkrise
Ganz anders bei ASEAN. An einen gemeinsamen Außenzoll und eine Zollunion war wegen des Gefälles zwischen dem quasi zollfreien Status von Singapur und den Hochzollländern Indonesien und Philippinen nicht zu denken. Versuche über eine gemeinsame Industriepolitik bei Gütern von regionaler Bedeutung scheiterten. Das ASEAN-Sekretariat in Jakarta blieb auf dem Status eines Diskussionsforums. Eigene Kompetenzen wurden ihm verweigert.
Dennoch wurde ASEAN dank der wirtschaftlichen Dynamik der Region als Prototyp marktgetriebener Integration im Gegensatz zur institutionalisierten Modell der EU gepriesen. Der Schock kam 1997, als sich die Finanzmärkte zum Spekulationsangriff auf die Wechselkursbindung des thailändischen Baht entschlossen und das Land in die Knie zwangen. Die ASEAN-Gemeinschaft stand hilflos daneben und musste zudem mit den Ansteckungseffekten auf die Wirtschaft der anderen Mitglieder fertig werden.
Vor zehn Jahren: Bewährungsprobe Weltfinanzkrise
Seither hält sich die These, dass nur die tiefe Integration von Staatengruppen die Finanzmärkte beeindrucken und von Attacken auf ein Mitgliedsland abhalten kann. Das ist zu hinterfragen. Auch die EU konnte die Attacken auf Griechenland nicht verhindern. Ohne die unabhängige EZB und den Internationalen Währungsfonds (IWF) hätte die Kommission mit Ihren Mitteln allein nichts ausrichten können. Und die Krise ist bis heute nicht wirklich überwunden.
Aber ungeachtet der Währungsunion gibt es weitere Zweifel an der These. Es zeichnet sich in den letzten Jahren ab, dass die ständige Erweiterung und Vertiefung die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Mitglieder an der EU so deutlich wie nie zuvor herausgestellt hat. Einige Mitglieder (das Vereinigte Königreich, Dänemark, die osteuropäischen Visegrad-Staaten) sind nur am Freihandel interessiert und lehnen gemeinsame Politiken an sich ab. Andere (u.a. Deutschland, die Niederlande, Frankreich) gehen viel weiter und sehen in der EU immer noch das politische Projekt, mit dem der Integrationsprozess einmal als großes Ziel startete. Wirtschaftliche Integration war dabei immer das Vehikel für politische Integration.
Problemfeld Freizügigkeit für Arbeit
Im Nachhinein wissen wir, wo die rote Linie verlief, nach deren Überschreiten diese Gegensätze zutage traten. Es war die Freizügigkeit für Arbeit, ein dorniges Feld schon vor dreißig Jahren. Man denke nur an die schwierigen Anerkennungsprozesse bei Qualifikationen und Abschlüssen. Die potenziellen Zielländer verhielten sich teilweise sehr ablehnend und nahmen alle Übergangsfristen in Anspruch, um die Wanderung beispielsweise aus Mitteleuropa zu verzögern (so Deutschland und Österreich).
Dieses Verhalten erweist sich zunehmend als Schlag ins Wasser. Arbeit ist räumlich mobiler geworden, weil Informations-und Wanderungskosten gesunken sind. Mehr Handel und Kapitalverkehr reichen nicht mehr aus, um die unterschiedlichen Beschäftigungsniveaus in den Mitgliedsstaaten auszugleichen. Mehr Wanderung aber löst Lohndumpingvorwürfe aus, auch Fremdenfeindlichkeit. Die dagegen eingesetzten Maßnahmen (z.B. Entsendegesetz) sind der "Gleichmacher" und begrenzen den Wettbewerb, den Integration an sich beleben sollte. Sie schaffen Streit und verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten. Eine Achterbahnfahrt der Integration beginnt.
Problemfeld Handel mit Dienstleistungen
Davon war ASEAN immer weit entfernt. Von Beginn an war Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Tabu in ASEAN. Es stand nie auf der Agenda der Integration. Die einzelnen Mitglieder behalten sich nationale Lösungen wie Quoten vor. So kann ASEAN Kosten der Desintegration vermeiden und bleibt eine "flache" Gemeinschaft.
Es gibt eine zweite rote Linie, an der sich Kontroversen in der EU entzünden. Das ist der freie Dienstleistungshandel, der bis heute nicht die Qualität des freien Güterhandels erreicht hat. Das Prinzip der Wettbewerbsbedingungen des Ursprungslandes wird bekämpft. Kulturelle nationale Besonderheiten wie die deutsche Preisbindung im Bucheinzelhandel werden hochgehalten. Auch hier ähnelt die EU-Integration einer Achterbahnfahrt mit hohen Kosten.
Kein Modell ist perfekt
Man kann argumentieren, dass ein mangelnder Ehrgeiz von ASEAN beim Übergang zu einer tiefen Integration einem höheren Gewicht der Region in den weltwirtschaftlichen Beziehungen entgegensteht und daher in seinen verpassten Chancen nicht zu rosig gesehen werden sollte. Aber ASEAN hat diese Begrenzungen von Anfang an erkannt und damit die Achterbahnkosten vermieden, mit denen sich die EU heute herumschlägt. ASEAN tut, was es kann; die EU versucht mehr, als sie verwirklichen kann. Die vergleichende Kostenbilanz von "flacher" und "tiefer" Integration fällt im Jahr der runden Geburtstage beider Gemeinschaften nicht so eindeutig zugunsten der EU aus, wie viele behaupten.
Rolf J. Langhammer ist einer der führenden deutschen Wirtschaftswissenschaftler. Er ist spezialisiert auf Entwicklungs- und Handelsfragen. Er war bis 2012 Vizepräsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, für das er bis heute arbeitet.