"Kaum Möglichkeiten, Ankara unter Druck zu setzen"
20. März 2020DW: Frau Gürbey, drei Einmärsche von türkischen Truppen seit 2016 in Nordsyrien, Spannung an der Grenze zu Griechenland, Einmischung mit Waffen und Truppen in Libyen, Gasbohrungen vor der Küste Zyperns, Ausweitung der Seegrenze zu Lasten Griechenlands und Zyperns, Konflikte mit der EU, der NATO und auch mit Russland. Was will Präsident Erdogan?
Gülistan Gürbey: All das ist Ausdruck der politischen Ambition der Türkei, eine regionale, hegemoniale Macht im Nahen Osten zu werden.
Ambitionen sind das eine, aber hat die Türkei auch die materiellen Ressourcen, um sie umzusetzen? Der Wirtschaft geht es gar nicht gut, die Arbeitslosigkeit steigt, die türkische Währung Lira verliert an Wert.
Die Türkei versucht mit hard power, mitunter wie in Syrien auch militärisch, ihre Ziele zu verfolgen. Dort ist sie so sehr - sowohl politisch wie auch militärisch - involviert, dass ein Rückzug auch eine Frage der Gesichtswahrung ist. Deshalb wird sie versuchen, in den von ihr kontrollierten Gebieten so lange zu bleiben, wie es geht. Bisher konnte Erdogan das "managen". Mit nationalistischer Rhetorik und indem er den Einmarsch mit dem Kampf gegen Terrorismus und mit der Bedrohung der türkischen Nation und des türkischen Staates verknüpft, gelingt es ihm, die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung zu erzeugen.
Was ist das türkische Anliegen in Syrien?
Es geht darum, die syrischen Kurden einzudämmen. Ankara will verhindern, dass dort ein kurdisches Autonomiegebiet entsteht bzw., perspektivisch, ein kurdischer Staat. Deshalb gab es seit 2016 in Nord-Syrien drei militärische Einmärsche, die allesamt völkerrechtswidrig sind. Das waren keine ad-hoc-Aktionen. Dahinter steckt ein durchdachtes strategisches Konzept. Alle drei Einmärsche sind Teil eines Ganzen, bauen aufeinander auf und ergänzen sich. Um das umzusetzen, hat Ankara die Interessenkonflikte zwischen Russland und der USA in der Region geschickt genutzt, um sich Handlungsspielräume zu verschaffen. Jetzt versucht sie, in Nordsyrien mit Hilfe von islamistischen Milizen vollendete Tatsachen zu schaffen. Das bedeutet vor allem eine massive Islamisierung dieser Gebiete und eine Änderung der Bevölkerungsstruktur durch Vertreibung der ansässigen syrischen Kurden und Ansiedlung pro-türkischer arabischer Milizen und syrischer Flüchtlinge, die in die Türkei geflohen sind. Faktisch sind diese Gebiete territoriale Einflusszonen, die die Türkei kontrolliert und als Verhandlungsmasse bereit hält. Dadurch verschafft sich Ankara eine bessere Verhandlungsposition bei künftigen Friedensverhandlungen. Doch schon jetzt lässt sich sagen: Die Türkei hat ihr Ziel, eine kurdische Autonomie bzw. einen kurdischen Staat zu verhindern, erreicht.
Auf den ersten Blick erscheint die türkische Vorgehensweise an der Grenze zu Griechenland widersprüchlich. Erdogan öffnet für Flüchtlinge zwar die Landgrenze in Nordgriechenland, nicht aber die Seegrenze in der Ägäis. Die griechischen Sicherheitskräfte sind sehr wohl in der Lage, die Landgrenze abzuschotten. In der Ägäis wäre das nicht möglich. Was für ein Kalkül ist dahinter?
Erdogan weiß ganz genau, dass er mit der Instrumentalisierung der Flüchtlinge Druck auf die EU ausüben kann und das setzt er nach Bedarf geschickt ein. Durch die Öffnung der Landgrenze zu Griechenland sollten genau diese schrecklichen Bilder erzeugt werden, die dann um die Welt gingen. Damit hat Erdogan sein Ziel erreicht, nämlich massiven Druck auf die gesamte EU auszuüben.
Dann halten Sie also griechische Befürchtungen nach einem von der Türkei herbeigeführten bewaffneten Zwischenfall in der Ägäis für nicht berechtigt?
Ich halte es nicht für realistisch, dass die Türkei militärisch gegen ein Mitgliedsland der EU vorgeht. Ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür.
Auf dem kommenden Gipfeltreffen beabsichtigen die Regierungs- und Staatschefs der EU, auch über das Verhältnis zur Türkei zu diskutieren. Was glauben Sie, wird bei diesen Beratungen herauskommen?
Solange in der Flüchtlingsfrage die Türkei als Türvorsteher Europas angesehen wird, wird sie von der EU unterstützt werden. Aber auch unabhängig davon und trotz all der Differenzen in vielen Fragen ist für die EU die Türkei ein unerlässlicher strategischer Partner. Deshalb sind die Möglichkeiten, sie unter Druck zu setzen, damit sie ihre Politik ändert, gering. Das weiß auch Erdogan. Deshalb wird wohl der EU-Rat zusätzliche finanzielle Hilfe für die Flüchtlinge in der Türkei gewähren. Meiner Meinung nach sollten die Gelder an Bedingungen geknüpft werden - an die Einhaltung demokratischer Standards im Land selbst, an die Beendigung der aggressiven türkischen Politik in Syrien, im östlichen Mittelmeerraum und so weiter. Aber realistischerweise bezweifle ich, dass das passieren wird.
Gülistan Gürbey ist Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Frieden und Konflikt, Internationaler Schutz von Minderheiten, Politische Systeme und De Facto Staaten im Nahen Osten mit Focus auf die Türkei, Zypern und Kurdistan.
Das Gespräch führte Panagiotis Kouparanis