EU und Tunesien: Gemeinsamer Pakt gegen Flüchtlinge?
17. Juni 2023Wie die Zukunft der europäisch-tunesischen Beziehungen aussieht, dürfte sich innerhalb der nächsten zwei Wochen zeigen. In dieser Zeit - noch vor dem Gipfel der Europäischen Union (EU) Ende Juni - wird sich der tunesische Präsident Kais Saied entscheiden müssen, ob er ein von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, vorgeschlagenes "Partnerschaftsprogramm" annehmen will.
Das Angebot liegt seit kurzem auf dem Tisch: Anfang dieser Woche schlug von der Leyen dem tunesischen Präsidenten ein ökonomisches Hilfspaket in Höhe von 900 Millionen Euro sowie weitere 150 Millionen Euro als unmittelbare Haushaltshilfe vor. Weitere 105 Millionen Euro stehen für Grenzschutz und Schmuggelbekämpfung bereit.
Kritiker fürchten allerdings, dass es der EU wesentlich auf das dritte Element des Angebots ankommt. Aus ihrer Sicht unterstreichen die 105 Millionen Euro für den Grenzschutz, wie wichtig der EU eine mögliche Hilfe Tunesiens bei der Kontrolle der Migration aus Nordafrika nach Europa ist.
Tatsächlich kam der Vorschlag nur wenige Tage nach dem Entwurf einer europäischen Asyl- und Migrationsreform. Diese soll es Italien ermöglichen, Asylsuchende und Migranten in Länder wie Tunesien abzuschieben.
"Das vorgeschlagene EU-Paket würde die tunesische Wirtschaft zwar stabilisieren", sagt Hamza Meddeb, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Carnegie Middle East Center in Tunis, im Gespräch mit der DW. "Der Preis für das Abkommen wäre jedoch die vollständige Kooperation Tunesiens in der Migrationsfrage sowie die Wiederaufnahme von abgelehnten tunesischen und subsaharischen Migranten."
Tödlicher Menschenschmuggel
Tunesien, das nur 150 Kilometer von Italiens Küste entfernt ist, hat sich zu einem wichtigen Drehkreuz für Migranten auf dem Weg nach Europa entwickelt. Angaben des italienischen Innenministeriums zufolge haben im Jahr 2023 bereits rund 53.800 Migranten aus Tunesien die italienische Küste erreicht - doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr. Viele dieser Menschen kamen mit Hilfe von Menschenhändlern, für die Profit mehr zählt als die Sicherheit der Menschen, die sich ihnen anvertrauen.
Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 rund 1000 Menschen gestorben oder werden vermisst. Im Jahr zuvor lag die Zahl noch bei 690 Personen.
Tunesien und die EU hätten beide großes Interesse daran, das zynische Geschäftsmodell der Schleuser und Menschenhändler zu durchbrechen, sagte von der Leyen am Montag in Tunis.
"Die Absicht, gemeinsam gegen diese riesigen mafiösen Netzwerke vorzugehen, die enorm viel Geld verdienen, ist in meinen Augen die wichtigste Ankündigung", sagt Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung, im Gespräch mit der DW. "Ich hoffe, dass die betroffene Staatengemeinschaft sich ernsthaft verpflichtet, wirksam gegen diese Netzwerke vorzugehen", so Löschmann. "Ich fürchte aber, dass weitaus größere Anstrengungen und Finanzen nötig sind, als bisher vorgesehen sind, um Menschen davor zu schützen, verkauft, versklavt und geschmuggelt zu werden. Entsprechende Anstrengungen müssen sich sowohl an die Herkunftsländer als auch an die Mafias in Europa richten."
Mohamed Hamed kommt aus dem Sudan. In Tunesien wartet er auf ein EU-Visum. Er bezweifele, dass das vorgeschlagene Abkommen die Situation verbessern werde, sagt er im Gespräch mit der DW. "Es ist bedauerlich, dass, wie auch immer das Abkommen zwischen Tunesien und der Europäischen Union aussehen mag, die größten Verlierer die Migranten und Flüchtlinge sein werden."
Wirtschaftlicher Druck
Im Kern sei das nun vorgeschlagene Abkommen keineswegs neu, sagt Romdhane Ben Omar, Sprecher des tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES), der DW. "Die europäische Delegation hat einen Vorschlag vorgelegt, den sie bereits 2014 präsentierte. Tunesien hatte ihn damals abgelehnt. Doch jetzt liegt er wieder auf dem Tisch. Und wieder zielt er darauf ab, die Beendigung der irregulären Einwanderung durch Geld und Hilfe für Tunesien zu ermöglichen."
Allerdings dürfte Saieds Bereitschaft zum Engagement heute größer sein als 2014. Damals galt Tunesien im Kontext des Arabischen Frühling von 2011 - dieser nahm in dem nordafrikanischen Land seinen Ausgang - weithin als Musterbeispiel der demokratischen Transformation galt.
Derzeit aber verschlechtert sich Tunesiens Wirtschaft so rapide, dass die US-Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit von Tunesien am vergangenen Freitag auf "Ramsch"-Status herabstufte. Aus Sicht der Agentur läuft das Land damit Gefahr, seine Kredite nicht mehr bedienen zu können. Das hätte womöglich den Zusammenbruch der Staatsfinanzen zur Folge.
Die Annahme des Vorschlags könnte einen wirtschaftlichen Wendepunkt darstellen. Doch um das EU-Abkommen - und das damit verbundene Geld - zu erhalten, muss Saied zunächst ein weiteres Hindernis überwinden. Denn der EU-Vorschlag ist an eine Kreditvereinbarung zwischen Tunesien und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 1,7 Milliarden Euro geknüpft.
Diese Vereinbarung geriet aber bereits vor Monaten ins Stocken, nachdem die einflussreiche tunesische Gewerkschaft General Labor Union sowie Saied selbst sie abgelehnt hatten. Der Präsident forderte eine Überarbeitung der "Diktate". Diese seien "ungeeignet", der Bevölkerung zu nützen.
Migranten aus Subsahara-Staaten unerwünscht
Nach Ansicht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) ist das vorgeschlagene Migrationsabkommen in seiner derzeitigen Form ethisch nicht akzeptabel. "Es ist höchst problematisch, dass die EU versucht, die irreguläre Ausreise aus Tunesien einzudämmen", sagte Lauren Seibert, wissenschaftliche Mitarbeiterin der HRW-Abteilung für Flüchtlings- und Migrantenrechte, gegenüber DW.
"Jeder hat das Recht, jedes Land zu verlassen, auch sein eigenes, und jeder hat das Recht, Asyl zu beantragen. Und der Versuch, Menschen an der Ausreise zu hindern, verletzt dieses Recht."
Die EU gebe bereits seit Jahren Millionen von Euro für ihre Grenzkontrolle aus. "Sie unterstützt dieses so genannte 'Migrationsmanagement', das aber im Wesentlichen auf Migrations- und Grenzkontrolle in Tunesien hinausläuft."
Die Gelder des nun zu verhandelnden Migrationsdeals dürften die tunesischen Sicherheitskräfte, einschließlich der Polizei und der Nationalgarde auf See, verstärken, fürchtet Seibert. "Beide haben in der Vergangenheit schwere Übergriffe gegen Migranten und Asylsuchende begangen."
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.