EU verklagt Warschau erneut
29. April 2020Gegner der Justizreform in Polen nennen es das "Maulkorbgesetz". Seit Februar diesen Jahres kann eine Disziplinarkammer, deren Mitglieder von der regierenden PiS-Partei ernannt werden, polnische Richter wegen Äußerungen oder Urteilen bestrafen, die der politischen Linie der Regierung widersprechen.
Gegen diese umstrittene Disziplinierung von Richtern hat die EU-Kommission in Brüssel nun ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Dies teilte EU-Justizkommissar Didier Reynders auf Twitter mit.
Juristische Etappensiege
Die zähe Auseinandersetzung der EU-Institutionen mit der nationalkonservativen polnischen Regierung zieht sich schon seit drei Jahren hin. Seit 2017 läuft wegen des anhaltenden Versuchs, die Justiz unter politische Aufsicht zu stellen, ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen.
Dabei gibt es für die EU juristische Etappensiege: Im vorigen Jahr kassierte der Europäische Gerichtshof ein Gesetz über die Zwangspensionierung oberster Richter ein. Anfang April entschied das Gericht in Luxemburg, dass die neue polnische Disziplinarkammer die "richterliche Unabhängigkeit" gefährde.
Jetzt geht die EU-Justizkommissarin Vera Jurova mit einem neuen Verfahren gegen dieses Gesetz vor. Wenn polnische Richter europäisches Recht nicht mehr frei anwenden könnten, werde die gemeinsame rechtliche Basis in Europa unterminiert: "Richter aus anderen Ländern müssen sich darauf verlassen können, dass polnische Richter unabhängig entscheiden", stellte sie klar. "Mitgliedsstaaten können ihre Justiz reformieren, aber sie müssen dies tun, ohne dabei EU-Verträge zu brechen."
Warschau ignoriert Brüssel
Vermutlich wird die EU-Kommission auch diesen Prozess gewinnen und die polnische Regierung das Gesetz entsprechend umgestalten. Aber bisher hat die Gegenwehr aus Brüssel nichts daran geändert, dass Warschau die auch im Land umkämpfte Reform Schritt für Schritt voran treibt.
Das Gleiche gilt für das unbefristete Dekret, mit dem Viktor Orban in Ungarn das Parlament ausgeschaltet und die Macht an sich gerissen hat. Man habe alle Notfall-Maßnahmen analysiert, heißt es dazu in Brüssel, und verstehe, das eine außergewöhnliche Situation außergewöhnliche Maßnahmen erfordere, aber das dürfe keine "Machtergreifung" sein.
"Wir beobachten aktiv, was die Regierung in Budapest tut", sagt Kommissarin Jurova. Wenn man aber das ungarische Gesetz lese, gebe es noch keinen Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren. Dabei sei zu erwarten, dass noch stärkere Bedenken wegen der Machtverteilung, der Pressefreiheit, der Lage der Zivilgesellschaft und der Justiz auftreten würden.
"Besorgniserregende Autokratisierung"
Die sozialdemokratische EP-Vizepräsidentin Katharina Barley ist verärgert über dieses abwartende, zögerliche Vorgehen. "Ich würde mir entschiedeneres Handeln der Kommission wünschen", sagte sie. Die EU-Kommission sollte durch richterlichen Beschluss das "Maulkorbgesetz" sofort außer Kraft setzen lassen und hätte gleich zu Jahresbeginn ein Verfahren einleiten sollen.
Neben juristischen Mitteln müsse es vor allem finanzielle Sanktionsmöglichkeiten geben und mit der Verteilung von Geldern eine Rechtstaatsklausel verbunden werden: "Es ist nicht vertretbar, dass Regierungen einerseits europäische Werte mit Füßen treten und andererseits die Zustimmung ihrer Wähler mit europäischem Geld erkaufen", sagt Barley. Ungarn erhält jährlich rund vier Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt.
EU-Diplomaten deuten allerdings an, dass angesichts der Corona-Krise die Probleme mit Polen und Ungarn auf die lange Bank geschoben würden. Teri Reintke von den Grünen im EP glaubt, dass Polen gerade diese Situation ausnutze. "Die Kommission müsste sich positionieren und klare Kante zeigen", kritisiert sie, es sei besorgniserregend wie die "Autokratisierung" in beiden Ländern voran getrieben werde.
Politischer Schutz für Viktor Orban?
Was die Finanzsanktionen angeht, gibt sie noch nicht alles verloren: "Es wird die zentrale Frage für die deutsche Ratspräsidentschaft sein, ob sie zu einer Konditionierung steht". Die Bundeskanzlerin hatte in Brüssel mehrfach gefordert, die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung demokratischer Regeln zu binden. Die Frage ist, ob sie bei der Abschlussschlacht um den Europäischen Haushalt und die Corona-Milliarden dieses Prinzip noch durchsetzen kann und will.
Einer der Gründe für die politische Zurückhaltung gegenüber Orban liegt im Europaparlament. Denn noch immer ist die Fidesz-Partei Mitglied in der größten Fraktion, der konservativen EVP, ebenso wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Es sieht so aus, als ob sie weiter auf die Unterstützung von Orban und Fidesz setzen muss," meint der grüne Europaparlamentarier Sergey Ladoginsky aus Deutschland. Seion Fazit: "Das ist nicht nur demokratisch unangebracht, sondern auch politisch unklug."