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Wenige neue Politikfelder

29. September 2009

Wie verändert sich die Europäische Union durch den Reformvertrag von Lissabon? Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht in Berlin, bewertet in unserem Interview den Lissabon-Vertrag.

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Porträtfoto (Foto: Bernd Riegert)
Europa-Experte Christoph Möllers lehrt an der Humboldt-Universität BerlinBild: DW

DW-WORLD.DE: Was entsteht durch den Lissabon-Vertrag aus staatsrechtlicher Sicht Neues? Gibt es überhaupt etwas Neues oder ist es nur die Fortschreibung dessen, was man in der EU bisher auch schon hatte?

Christoph Möllers: Es ist wie immer eigentlich beides. Man kann schon sagen, dass die Veränderungen in den Institutionen, also wie die EU organisiert wird, schon relativ groß sind. Wir werden neue Strukturen bekommen, neue Funktionen, neue Ämter. Andererseits sind die Kompetenzen, die der Vertrag bringt, nicht bemerkenswert. Es ist eher eine Reform, die darauf setzt, die EU intern zu konsolidieren und ihr eine frische Organisation zu geben, als eine, die den Mitgliedsstaaten Kompetenzen nimmt und neue Politikbereiche eröffnet.

Kanzlerin Merkel unterschreibt ein Dokument (Foto: AP)
Bundeskanzlerin Merkel unterschrieb im Dezember 2007 den Vertrag für DeutschlandBild: AP

Die EU bleibt also ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten. Es entsteht kein neuer Staatenbund, keine neue Qualität?

Es ist, wie es seit 1958 üblich, ein völkerrechtlicher Vertrag, in dem Staaten verabreden, bestimmte Organisationen gründen. Insofern ist es also nichts Neues, aber der Witz an der europäischen Integration ist ja, dass sie in kleinen Schritten verläuft. Deshalb wird man nie diesen einen archimedischen Punkt haben, wo man sagen kann: Hier ist mit einem Schlag etwas ganz Neues entstanden. Wenn Sie sich heute ansehen, wie die EU vor 30 Jahren aussah, dann sehen Sie, dass sie sich unglaublich gewandelt hat. Das muss man immer dazu denken.

Gegner des Vertrages behaupten, es entstünde mit dem Lissabon-Vertrag ein europäischer Superstaat. Wie sehen Sie das?

Superstaat ist eine Kategorie, die auf die EU nicht passt. Sie ist eine große Bürokratie, die die Mitgliedsstaaten repräsentiert und in der die Mitgliedsstaaten immer noch den größten Einfluss haben. Es ist ein Gebilde, das sehr schwer zu durchschauen ist. Ein Gebilde, das in Vielem nicht den demokratischen Standards entspricht, die wir aus den Nationalstaaten gewöhnt sind. Aber es ist eben auch anders als ein Nationalstaat. Es ist ein Gebilde, in dem zum Beispiel die Bundesregierung ihre eigene Macht ausweitet, in dem sie europäische Projekte beeinflussen kann.

Lissabon ist also ein weiterer Schritt auf dem Weg der Integration. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon Ende Juni 2009 gesagt, bis hierhin gehe die Integration und nicht weiter. Ist nach Lissabon also Schluss?

Richter in roten Roben kommen in den Gerichtssaal (Foto: dpa)
Das Bundesverfassungsgericht machte im Juni 2009 Auflagen für die Ratifizierung des Lissabon-VertragesBild: picture-alliance/dpa



Ob das Bundesverfassungsgericht das gesagt hat, müsste man sich noch einmal anschauen. Ich denke, das Urteil ist dadurch gekennzeichnet, dass es widersprüchliche Botschaften enthält. Auf der einen Seite eine absolute Integrationsgrenze, jedenfalls bezogen auf das deutsche Grundgesetz. Auf der anderen Seite wird aber auch angedeutet, dass das nicht das Letzte gewesen sein kann, was die europäische Integration bringen wird. Ich glaube nicht, dass Schluss ist, aber wir sind sehr schnell vorangeschritten, wenn man ins Jahr 1980 zurückblickt. Deshalb gibt es in vielen Ländern auch ein Unbehagen, das sich auch in Volksbefragungen niederschlägt.

Es gibt eine Diskussion darüber, ob mit dem Lissabon-Vertrag der Europäische Gerichtshof oder die nationalen Gerichte, wie das Bundesverfassungsgericht Zuständigkeiten dazu gewinnen oder abgeben müssen. Wer hat das letzte Wort?

Es gibt nie eine letztendliche Entscheidung - es geht immer weiter. Deshalb ist diese ganze Diskussion ein bisschen falsch oder im schlechten Sinne theoretisch. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) trifft eine Entscheidung, das Bundesverfassungsgericht trifft eine Entscheidung. Beide beobachten sich dabei und werden voneinander beeinflusst. Dieser Konflikt ist nichts Dramatisches, sondern in föderalen Ordnungen relativ selbstverständlich. Der Witz ist, dass die Fragen nie abschließend beantwortet werden und beide Gerichte darauf Wert legen, dass sie selbst etwas zu sagen haben. Das wird ein dynamischer Prozess, ein Gleichgewicht oder Ungleichgewicht bleiben, das man nicht dadurch arretieren kann, dass man sagt, jetzt hat der EuGH oder das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort.

Durch den Lissabon-Vertrag sollen die Zuständigkeiten der EU ausgeweitet werden. Werden dann auch die europäischen Gerichte mehr Zuständigkeiten und Arbeit bekommen?

Blick in den Plenarsaal mit im Kreis angeordneten Sitzen (Foto: EP)
Das Europäische Parlament profitiert vom Lissabon-VertragBild: Photo European Parliament/Architects : Architecture Studio

Nein, das glaube ich nicht. Eigentlich neu sind ja nur ganz wenige Politikfelder eher am Rande. Neu sind einige Verfahren, die in bestehenden Politikfeldern angewendet werden. Man sollte sich von solchen Kompetenzkatalogen auch nicht zu viel versprechen. Wir kennen das aus anderen föderalen Ordnungen, dass die Rechtsprechung immer sehr frei damit umgeht, zu entscheiden, wer welche Kompetenzen bekommt.

Die Befürworter des Lissabon-Vertrages argumentieren, Europa würde demokratischer und durchschaubarer. Was ist von solchen Schlagworten zu halten? Wird es tatsächlich demokratischer?

Es wird in manchen Dingen demokratischer, weil das Europäische Parlament mehr Rechte bekommt. Das Parlament wird langsam zu einem echten politischen Organ. Vergleicht man den Lissabon-Vertrag aber mit dem ursprünglichen Verfassungsentwurf, dann sieht man, dass viele Dinge, die demokratischen Wert hatten, auch verloren gegangen sind, weil die Mitgliedsstaaten das nicht wollten. Das Demokratisierungspotenzial ist lange noch nicht ausgeschöpft. Und es sind interessanterweise auch die Mitgliedsstaaten, die das nicht wollen. Da liegt das Problem.


Professor Christoph Möllers lehrt seit Oktober 2009 an der Humboldt Universität Berlin Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie. Möllers hatte bislang einen Lehrstuhl in Gießen inne und gilt als Experte für Europäisches Recht.


Das Interview führte Bernd Riegert.
Redaktion: Julia Kuckelkorn