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EuGH-Urteil: Häusliche Gewalt ist Fluchtgrund für Frauen

16. Januar 2024

Wenn Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können sie internationalen Schutz in Anspruch nehmen. Experten begrüßen dieses Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union. Doch komme es auf die Umsetzung an.

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Eine Frau demonstriert in Rom aus Anlass des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen in Mailand im November 2023 (Archivbild). Bild: Luca Bruno/AP Photo/picture alliance

Frauen können den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, wenn ihnen in ihrem Herkunftsland "aufgrund ihres Geschlechts physische oder psychische Gewalt" droht. Dies schließe sexuelle Gewalt und häusliche Gewalt mit ein, urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) am Dienstag.

Im Ausgangsfall ging es nach Angaben des Gerichtshofs um eine türkische Staatsangehörige kurdischer Herkunft. Die geschiedene Muslimin gibt an, von ihrer Familie zwangsverheiratet sowie von ihrem Ehemann bedroht und geschlagen worden zu sein.

Im Falle einer Rückkehr sei ihr Leben bedroht, weshalb sie in Bulgarien einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit diesem Fall - in dem es sich im Kern um die Androhung eines sogenannten "Ehrenmordes" handelt - hat sich nun der EuGH befasst.

Blick in den Gerichtssaal des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg
Der EuGH hat klargestellt, wann Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, Asyl und subsidiärer Schutz gewährt werden muss. Bild: /Patrick Scheiber/imago

Frauen sind Teil einer sozialen Gruppe

Die Flüchtlingseigenschaft gelte, wenn jemand wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde und deshalb sein Land verlassen habe, teilt der EuGH mit.

Nun stellt der Gerichtshof klar, dass Frauen insgesamt als soziale Gruppe angesehen werden können. Falls sie "in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind", könne ihnen damit die Flüchtlingseigenschaft zugestanden werden.

Falls betroffene Frauen die "Flüchtlingseigenschaften" nicht erfüllen sollten, könne ihnen dennoch subsidiärer Schutz gewährt werden, so der Gerichtshof. Dies treffe zu, falls ihnen tatsächlich die Gefahr drohe, Opfer von Gewalt oder gar getötet zu werden.

Insbesondere die Drohungen eines Familienangehörigen oder ihrer Gemeinschaft, "wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen" könnten den Anspruch auf subsidiären Schutz begründen, so der Gerichtshof.

Politiker und NGOs begrüßen die Entscheidung grundsätzlich

"Das ist ein sehr wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen vor häuslicher und sexueller Gewalt", erklärte die EU-Abgeordnete der Grünen, Terry Reintke, auf Anfrage der DW. Denn es mache deutlich, dass die EU auch Frauen ohne europäischen Pass vor häuslicher Gewalt in ihren Heimatländern schützen müsse.

Die Grünen-Politikerin Theresa Reintke vor einer blauen Wand mit dem Logo des EU-Parlaments
"Ein sehr wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen" - Terry Reintke, Ko-Vorsitzende des Frauenausschusses im EU-Parlament (Archivbild)Bild: Philippe Stirnweiss/EP

Robert Biedron, Vorsitzender des Ausschusses für Frauenrechte und Mitglied in der sozialdemokratischen Fraktion, erkennt in dem Urteil einen "wichtigen Schritt zur Förderung eines integrativen und mitfühlenden Ansatzes in der Asylpolitik" des EuGH.

Sowohl die Organisation Terre des Femmes, als auch Pro Asyl begrüßen das Urteil. Karl Kopp, Europasprecher von Pro Asyl, sieht die Rechtsstellung der Frau gestärkt. Stephanie Walter, Referentin bei der Nichtregierungsorganisation Terre des Femmes, hält das Urteil für begrüßenswert, weil es die Chancen von Frauen stärke, die von häuslicher Gewalt betroffen seien.

Bedeutung und Reichweite des Urteils

Im Gespräch mit der DW zeigt sich Terre des Femmes-Referentin Walter allerdings skeptisch, ob sich durch das Urteil in der deutschen Praxis etwas ändern werde. Denn in deutschen Verwaltungsgerichten werde bereits in vielen Fällen nach den Maßstäben entschieden, die dieses Urteil aufstellt.

Ihrer Meinung nach liegt der "Knackpunkt" woanders. Damit die betroffenen Frauen ihre Asylgründe vortragen könnten, bräuchte es einen gewissen Rahmen, wie eine sichere Unterbringung und Zugang zu spezialisierten Beratungsstellen, sagt Walter.

Auch wüssten die Frauen oft nicht, dass es sich bei Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder häuslicher Gewalt um Fluchtgründe handelt, die sie bereits bei der ersten Anhörung vor den Behörden vorbringen müssten.

Frauen in der Türkei fürchten um ihre Rechte

Migrationsexperte Kopp betont, es komme bei dem Urteil auch auf die Implementierung in den Nationalstaaten an. Er schätzt die Wirkung aber grundsätzlich positiv ein.

Bei ordentlicher Umsetzung des Urteils sei davon auszugehen, dass in Zukunft mehr Frauen Schutz bekämen. Außerdem sorge es dafür, dass die "Errungenschaften der Istanbuler Konvention noch einmal in Gänze im Asylverfahren zum Tragen" kommen.

Bedeutung des Istanbuler Übereinkommen für das Urteil

Das Istanbuler Abkommen verpflichtet seine Unterzeichner zu einer Reihe von Maßnahmen, welche Frauen vor häuslicher Gewalt schützen sollen. Am 1. Juni 2023 ist die EU diesem Abkommen offiziell beigetreten.

Es wurde zwar von allen EU-Staaten unterzeichnet, jedoch von Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen und der Slowakei bislang nicht ratifiziert. In seinem Urteil hat sich der EuGH explizit auf dieses Übereinkommen bezogen.

Nach Einschätzung von EU-Parlamentarierin Terry Reintke ist das Urteil erst durch den Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention möglich geworden. Sie hat die restlichen Staaten dazu aufgefordert, die Konvention zu ratifizieren.

Der polnische Abgeordnete Robert Biedron betont, der Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention sei auch ein "Symbol für die Bereitschaft der EU, Gewalt gegen Frauen zu beseitigen". Dazu werde man stehen.

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel