Aufstand der Fußballzwerge
30. Juni 2021Erlösung in letzter Sekunde: Der Siegtreffer von Artem Dovbyk im Achtelfinale gegen Schweden hat die ganze Ukraine in einen Freudentaumel versetzt. "Da war was los!", erzählt Leonid aus Kiew der DW. "Ich war im Zug unterwegs. Alle sind aufgesprungen, haben sich gefreut, es hat förmlich gequietscht." Die Kritik nach den schwächeren Auftritten in der Gruppenphase ist jedenfalls vergessen. Natalia, ebenfalls aus der Hauptstadt, freut sich: "Ich bin voller Stolz für mein Land, für Trainer Schewtschenko, für das Team. Ich wünsche mir, dass solche Erfolge die Nation einen." Als "historisch" bezeichnet der Präsident des ukrainischen Fußballverbands, Andrij Pawelko, den Erfolg: "Wir stehen im Viertelfinale der Europameisterschaft! Die Mannschaft von Andrij Schewtschenko gehört zu den acht stärksten Nationalmannschaften des Kontinents!"
Überheblichkeit der Großen
Während die Ukrainer sich noch euphorisch freuen, reibt sich manch ernüchterter Fan die Augen beim Blick auf das Turniertableau. Belgien gegen die Schweiz und Ukraine gegen Dänemark wären mögliche Halbfinalpaarungen. Diese Europameisterschaft erlebt den Aufstand der "Kleinen" - und das völlig zu Recht. Zur Magie des Fußball gehört es, dass mannschaftliche Geschlossenheit und einfache Mittel auch gegen deutlich stärker besetzte Teams zum Erfolg führen können. Bestes Beispiel ist die gute alte Manndeckung der Tschechen, die im Achtelfinale die Niederländer zur Verzweiflung brachte. Ätzendes Echo in der holländischen Presse nach dem Aus: "Die Tschechen - so ungefähr das Niveau des FC Groningen - demaskieren Bondscoach Frank de Boer."
Fußballriesen kommen bei dieser EM recht zwergenhaft daher. Es reicht der Blick auf die Teams in der sogenannten "Todesgruppe": Weltmeister Frankreich, Titelverteidiger Portugal, dazu Deutschland mit Heimspielen in München. Um ein Haar hätte jedoch Ungarn die Gruppenphase überstanden. Es war so knapp, dass die deutsche Elf mit Spielereien an der Eckfahne das 2:2-Unentschieden über die Zeit retten musste. Ein schmerzlicher Anblick für die deutschen Fans. Auch mit ihrer Staroffensive hatte sich Frankreich an den engagierten Ungarn die Zähne ausgebissen und nur remis gespielt.
Emotionen als Internet-Hit
Genutzt hat es der stolzen Équipe Tricolore wenig. Ihr Achtelfinal-Aus gegen die Schweiz, trotz 3:1-Führung kurz vor Schluss, war die bisher größte Sensation des Turniers. Überragende Einzelspieler und ein gutes Maß an Überheblichkeit zerschellten an unbändigem Siegeswillen - für Fußball und Fans ist das eigentlich eine gute Nachricht. Weniger erfolgsverwöhnt, schlagen die Emotionen bei den Fans der Außenseiter umso höher. Luca Loutenbach, der seine Schweizer "Nati" in Bukarest unterstützte, brachte es mit seinen Gefühlsausbrüchen zu blitzartigem Ruhm in den sozialen Netzwerken.
Sintschenko: "Wir leben nur einmal"
Das Viertelfinale wird zeigen, ob die Außenseiter weiter in der Lage sind, die Großen zu ärgern. Mit Italien, Spanien, England und Belgien mischen noch genug Favoriten mit. Seinen ukrainischen Landsleuten gab Superstar Oleksandr Sintschenko nach dem späten Achtelfinal-Triumph auch nur einen guten Rat: "Ich empfehle jedem zu feiern. Denn wir leben nur einmal, und vielleicht werden sich solche Momente nicht wiederholen." Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hoffen dennoch darauf - am Samstag gegen England.