Europa ohne Amerika
20. Juni 2020Der Schock ist immer noch nicht verdaut. Wenige Tage nach der Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, rund ein Drittel der GIs aus Deutschland abzuziehen, beschäftigt das Thema alle politischen Ebenen. Bürgermeister in strukturschwachen Regionen sorgen sich um massive Kaufkraftverluste, der deutsche Außenminister fürchtet um eine weitere Schwächung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, und die Militärplaner in Europa fragen sich, was diese Entscheidung für die europäische Sicherheitsarchitektur bedeutet. Schließlich ist Deutschland der zentrale Baustein der US-amerikanischen Verteidigungsstrategie in Europa - bis hin zum Standort von US-Atomwaffen, die im Ernstfall von deutschen Kampfflugzeugen in ihr Ziel geflogen werden würden.
Doch diese Präsenz in Deutschland soll massiv geschwächt werden. Rund 9500 GIs will Trump aus Deutschland abziehen. Sollte ein Großteil der Soldaten nicht an andere Standorte in Europa verlegt werden, sondern in ihre Heimat zurückkehren, veränderten sich die militärischen Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent. "Wo diese Reise hingehen wird, und welche Sicherheitslücken sich dadurch ergeben werden, ist noch völlig unklar", sagt der Vizepräsident des transatlantisch orientierten German Marshall Fund in Berlin, Thomas Kleine-Brockhoff. Gewinner dieser Entscheidung kann er für den Moment nicht erkennen. Noch nicht einmal Deutschlands Nachbar Polen, der auf eine Aufstockung des US-Kontingentes in seinem Land hoffen darf. Die Schwächung der Bindungen zwischen den USA und Deutschland schade ganz Europa, so Kleine-Brockhoff, was auch die Staaten in Mittel- und Osteuropa registriert hätten.
Und doch: Europa muss auf den Rückzug der Amerikaner Antworten finden.
Europas Sicherheit ohne Amerika
"Europa wird mehr Verantwortung übernehmen müssen", glaubt Roderich Kiesewetter. Der frühere Berufsoffizier ist heute CDU-Außenpolitiker im Bundestag. Kiesewetter wiederholt damit eine Forderung, die auch von der Bundeskanzlerin und aus den zuständigen Ressorts regelmäßig zu vernehmen ist. Doch wie dieses Mehr an Verantwortung aussehen kann, lässt die deutsche Politik gerne offen.
Geht es um etwas mehr Engagement in dem einen oder anderen Krisenherd zur Entlastung der USA, die sich in Zukunft stark auf den chinesischen Rivalen und Asien fokussieren dürften? Oder sorgt der Druck durch den Abzug dazu, dass die Regierung am Ende doch den seit Jahren erhobenen Forderungen aus den USA und der NATO nachkommt und ihre Verteidigungsausgaben massiv erhöht? Außenpolitik-Experte Kleine-Brockhoff empfiehlt genau diese Reaktion: "Die Bundesrepublik hat in der Flüchtlingskrise und jetzt in der Corona-Krise bewiesen, dass sie sehr wohl große Geldsummen in die Hand nehmen kann." Oder wäre für Deutschland gar ein Paradigmenwechsel denkbar? Die Arbeit an einem Europa, das seine Sicherheit ohne Amerika garantieren könnte - auch in letzter Konsequenz.
Immer wieder Angebote
Sollte letztere Überlegung auf dem geheimen Wunschzettel deutscher Politiker stehen, dann würde dies unweigerlich mit Berlin und Paris die verbliebenen politischen und militärischen EU-Schwergewichte fordern. Und es würde erneut eine für Deutschland unangenehme Frage in den Vordergrund rücken: die Haltung zu Atomwaffen. Die nukleare Abschreckung gilt als letzte Lebensversicherung staatlicher Unabhängigkeit.
Die Bundesrepublik steht seit Jahrzehnten unter dem atomaren Schutzschirm der NATO und damit der USA. Wenn Europa für seine Sicherheit selbst sorgen wollte, dann müsste es für diesen Schutzschirm einen europäischen Ersatz geben. Nach Lage der Dinge käme dafür nur Frankreich in Frage. Ihre Atomstreitmacht, die sogenannte "Force de Frappe", lassen sich die Franzosen seit Jahrzehnten viel Geld kosten - und sie achten in diesem Bereich seit jeher auf Distanz zu den USA und der NATO. Bis heute sind die französischen Waffen nicht in die Planung des Verteidigungsbündnisses integriert.
Allerdings gab es in der Vergangenheit mehrfach Versuche, Deutschland auf die eine oder andere Weise an die französischen Nuklearwaffen heranzuführen. Unter Staatspräsident Jacques Chirac wurde in den 1990er Jahren sogar eine geteilte Verantwortung in Erwägung gezogen. Nicolas Sarkozy soll der Kanzlerin in seiner Präsidentschaft eine finanzielle Beteiligung angeboten haben. Doch Berlin lehnte jeweils mit dem Hinweis auf den US-Schirm dankend ab.
Emmanuel Macrons Offerte
Anfang des Jahres lancierte Staatspräsident Emmanuel Macron einen neuen Versuch. Der Präsident lud die europäischen Partner zu einem "strategischen Dialog" über die französischen Nuklearwaffen ein. Was genau darunter zu verstehen war, blieb einstweilen offen, doch die deutsche Verteidigungsministerin nahm die Einladung bei einem Besuch in Paris an - gleichwohl nicht ohne im gleichen Atemzug die Bedeutung des US-Schirms zu betonen.
Vier Monate später hat der "strategische Dialog" noch keine Ergebnisse für die Öffentlichkeit produziert. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigt lediglich, dass mit Frankreich "im Rahmen der turnusmäßigen Abstimmungen zu strategischen Fragen auch Fragen nuklearen Abschreckung in Europa thematisiert werden".
Es dürfen keine Zweifel aufkommen
Dass es für die Öffentlichkeit hier wenig Informationen gibt, hängt zweifellos auch mit der Sensibilität von Abschreckungsfragen zusammen. "Wenn der amerikanische Schutzschirm und die amerikanische nukleare Teilhabe in Europa und woanders in Frage gestellt werden sollte", warnt der Transatlantiker Thomas Kleine-Brockhoff, "dann wird es das Bedürfnis von vielen kleinen und mittleren Mächten geben, selbst Nuklearmacht zu sein". Schon der Zweifel könnte eine Kettenreaktion in Gang setzen und Partner und Rivalen gleichermaßen verunsichern.
Die Frage nach einem Europäischen Nuklearschirm könnte sich trotzdem irgendwann stellen - sollten die USA ihren Rückzug aus Europa, der schon lange vor Donald Trump begonnen hat, fortsetzen. "Ich würde der Regierung dazu raten, doppelgleisig zu fahren", sagt deshalb Christian Mölling, Sicherheitsexperte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, "nämlich die Möglichkeit offen zu halten, auf ein französisches Potenzial umzustellen". Denn ein solcher Richtungswechsel müsse über Jahrzehnte vorbereitet werden.
FCAS als Einstieg in den Umstieg?
Eine Möglichkeit, diese Entwicklung anzubahnen, könnte das deutsch-französische Kampfflugzeug FCAS sein, das bis 2040 entwickelt werden soll - und eine wichtige Rolle in der französischen Abschreckungsstrategie einnehmen dürfte. "20 Jahre, um Vertrauen und eine gemeinsame Perspektive aufzubauen, sind nicht viel Zeit. Zumindest für einen staatspolitischen Richtungswechsel", analysiert Mölling die großen Hürden für einen Wechsel des atomaren Schutzschirms.
Wie schwierig ein solcher Weg neben allen technischen Fragen sein würde, zeigt schon die Tatsache, dass in Frankreich die nukleare Abschreckung der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Sicherheitsarchitektur ist, während in Deutschland weite Teile der Politik einen Abzug der aktuell noch im Land stationierten US-Atomwaffen fordern.
Allein die Frage, wer im Konfliktfall innerhalb kürzester Zeit über den Einsatz der Waffen entscheiden würde, erscheint für eine "europäische Bombe" kaum lösbar. In Frankreich ist die Abschreckung ganz auf den Präsidenten zugeschnitten, dem ein hoher Offizier mit den Notfall-Atom-Codes auf Schritt und Tritt folgt.
Einfache Antworten auf diese Frage wird es nicht geben können, aber womöglich werden sich in den kommenden Jahren die Deutschen stärker mit dem französischen Nuklear-Denken vertraut machen müssen. Sicherheit in Europa ohne Amerika wäre - so sie denn überhaupt möglich ist - eine Frage von Jahrzehnten. Die Gedankenspiele dazu könnten aber schon früher beginnen.