Europa fragt sich: "Quo vadis, Hungaria?"
27. März 2012Quo vadis, Hungaria? Dieser Frage geht die renommierte wissenschaftliche Zeitschrift "Osteuropa" nach. Ungarn steht spätestens seit der Regierungsübernahme durch die Partei Fidesz unter Ministerpräsident Viktor Orbán in einem gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Umbruchprozess. Nach Verfassungsänderung und neuem repressivem Mediengesetz, nach antisemitischen Äußerungen bekannter Politiker und Beschneidungen von Kunst- und Kulturförderung fragen sich immer mehr Beobachter: Ist Ungarn noch eine Demokratie? Im kürzlich erschienenen Band der Zeitschrift "osteuropa" über Ungarn haben vor allem dort geborene Wissenschaftler und Publizisten zusammengetragen, wie sie den gesellschaftspolitischen Wandel in ihrer Heimat einschätzen und worin sie die Gründe für den Ruck nach Rechts unter Ministerpräsident Orbán sehen. Die Deutsche Welle sprach mit dem Herausgeber von "osteuropa", Manfred Sapper:
Deutsche Welle: Sie schreiben in der Einleitung des Bandes über Ungarn, es herrsche dort derzeit eine "Kultur des Unbedingten". Was verstehen Sie darunter?
Manfred Sapper: Das bedeutet, dass es keine Kompromisse gibt. Die Partei von Viktor Orbán, der Fidesz, hat eigentlich all das, was eine normale demokratische Partei ausmacht, nämlich die Anerkennung von Parteienwettbewerb, von Pluralismus, von Selbstbeschränkung, von Rechtsstaatlichkeit, weitgehend aus ihrem eigenen politischen Weltbild verbannt. Fidesz hat die Erfahrung gemacht, dass er während der ersten Regierungszeit abgewählt worden ist. Um eine Wiederholung zu verhindern, muss das Land - laut Fidesz - unbedingt umgestaltet werden. Es muss jede Chance genutzt werden, die eigene Position zu stärken. Das ist für uns die "Kultur des Unbedingten", die die momentane Orbán-Kultur in Ungarn auszeichnet.
Verhältnisse wie in Russland?
Wenn man all die Aufsätze liest in dem neuen Band von "osteuropa", bekommt man den Eindruck, hier handele es sich um russische Verhältnisse unter Putin!
Vergleichen kann man grundsätzlich alles. Aber nicht gleichsetzen. Es gibt schon einen qualitativen Unterschied zwischen der simulierten Demokratie in Russland und der in Ungarn. Es gibt – wenn Sie an den Fall Chodorkowski denken – eine politisierte Justiz in Russland. Obwohl das Verfassungsgericht in Ungarn in seinen Kompetenzen beschnitten wurde, ist Ungarn nach wie vor ein Rechtsstaat. Aber das Entscheidende ist, dass Ungarn Mitglied der Europäischen Union ist. Und Tendenzen in Richtung Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Abbau von checks und balances, die zum Kernbestandteil einer bürgerlich-liberalen Demokratie gehören, lösen in einem EU-Land natürlich viel mehr Sorge aus, als das, was außerhalb der Europäischen Union passiert.
Welche Chancen haben oppositionelle Kulturschaffende, Schriftsteller, Intellektuelle beim Protest gegen die Zustände in Ungarn?
Die schreien auf, sind aber in der Gesellschaft sehr stark marginalisiert. Die Gesellschaft ist sehr stark von einem Freund-Feind-Denken geprägt. Und sie wird beherrscht von einem Denken der Zwischenkriegszeit. Mit beidem operiert die politische Ideologie des Fidesz. Dadurch ist der alte Konflikt zwischen Stadt und Land wieder aufgebrochen. In Ungarn ist es sehr weit verbreitet, dass Budapest als dekadent, als westlich wahrgenommen wird. Und viele der Intellektuellen sind natürlich in Budapest zu Hause.
Und dann gibt es rechts von Fidesz noch die Partei Jobbik. Die ist offen nationalsozialistisch, antisemitisch, offen rassistisch und xenophob. Da gibt es harte Attacken gegen alle Intellektuelle. Sogar gegen Leute vom intellektuellen Kaliber eines Imre Kertész, der in der aktuellen Kulturlandschaft, in der politischen Kultur Ungarns, weitgehend von der herrschenden Partei Fidesz totgeschwiegen wird. Während auf der anderen Seite Blut- und Boden-Autoren wie Albert Wass, ein Autor aus Siebenbürgen aus der Zwischenkriegszeit, hochgeschätzt werden. Das sind ganz eigentümliche Traditionen, die momentan in Ungarn hoffähig sind. Da sind die Intellektuellen marginalisiert – noch schlimmer ist es, wenn sie Juden sind.
Fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit
Wenn man weit zurückblickt in die ungarische Geschichte – das tun Ihre Autoren in "osteuropa" ja ausführlich -, da fallen dann Stichworte wie "nationale Identität" und "Geschichtsbewusstsein". Wie ist das zu erklären, was ist schief gelaufen in Ungarn?
Wichtig ist, was der Gehalt der nationalen Identität ist und was Geschichtsbewusstsein? Da haben wir es mit folgender Situation zu tun: Zum einen hat Ungarn während der sozialistischen Periode die Vergangenheit eigentlich nicht wirklich aufgearbeitet. Und zu dieser Vergangenheit gehört, dass Ungarn Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschland war, und dass Ungarn auch am Holocaust beteiligt war, dass 1944 in wenigen Wochen fast die gesamten ungarischen Juden umgebracht worden sind. Da steht den Ungarn noch die Aufarbeitung der Vergangenheit bevor, die wir in Deutschland in den 60er Jahren begonnen haben. Die ersten 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war Verdrängung angesagt. In Ungarn fängt man jetzt erst langsam an, auch die Zwischenkriegszeit zu betrachten.
Und dann gibt es als zweites Moment, das viele Texte unseres Bandes durchzieht: die nach wie vor nicht aufgearbeitete Auseinandersetzung mit der Frage, wie es zu der Teilung Ungarns während der französischen Vorortverträge von 1918 kommen konnte (dem Vertrag von Trianon), als die ungarische Nation gespalten wurde und ein Großteil des ehemals ungarischen Territoriums verloren gegangen ist. Dadurch bestehen bis heute – obwohl alle Staaten Mitglieder der EU sind – nationale Konflikte in der Frage nach der Sprache und den kulturellen Gegebenheiten. Das ist eine offene Wunde, die noch nicht verheilt ist.
Dazu kommt, dass die wirtschaftliche Lage in Ungarn sehr prekär ist. Zehn Jahre Misswirtschaft und populistische Politik, für die auch die Sozialisten mitverantwortlich sind, haben Spuren hinterlassen. Das alles hat eine sehr unerfreuliche politische Atmosphäre geschaffen, von der momentan Viktor Orbán als Menschenfänger profitiert.
„Quo vadis, Hungaria? – Kritik der ungarischen Vernunft“, „Osteuropa“, hrsg. von Manfred Sapper und Volker Weichsel, 61. Jahrgang. Heft 12, Dezember 2011, 432 Seiten, 29 Karten, 55 Abbildungen, 24 Euro, ISBN978 3 8305 1947 8.