1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Literatur

"Kann Kultur Europa retten?"

Sabine Peschel
12. Oktober 2017

Die Kultur in Europa hat viel zu tun: Sie soll Freiräume schaffen, das Erbe der Französischen Revolution weitergeben und das Erreichte bewahren. Kann sie das? Eine Diskussion auf der Frankfurter Buchmesse.

https://p.dw.com/p/2lhRb
Deutschland Buchmesse Frankfurt 2017 Chris Dercon
Volksbühnenintendant und früherer Direktor der Tate Modern Chris Dercon diskutiert auf der Frankfurter BuchmesseBild: Getty Images/H. Foerster

Europa ist das vorherrschende Thema unserer Zeit, auch auf der Frankfurter Buchmesse. Die Ausgangsdiagnose: Europa ist in einem ziemlich schlechten Zustand. Es befindet sich im Dauerkrisenmodus - Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, anhaltender Vertrauensverlust in die politische Elite, Brexit, Rechtsnationalismus, Separatismus, Nationalismus. Demgegenüber steht eine neue Europa-Euphorie, die von immer mehr Menschen getragen wird und eine Bewegung wie "Pulse of Europe" hervorgebracht hat. In seiner Eröffnungsrede in Frankfurt sprach der französische Präsident Emmanuel Macron davon, dass Deutschland und Frankreich - das Gastland der Frankfurter Buchmesse - ein wichtiger Motor für die Erarbeitung von Lösungen sein sollten. Und er sagte auch: Ohne Kultur gibt es kein Europa.

"Kultur als Gesellschaftskitt" - auch für Europa?

Kann also Kultur dazu beitragen, nationalstaatliche Interessen und die Logik europäischer Zusammenarbeit miteinander zu versöhnen? Um diese Frage ging es in einer Diskussionsrunde, die das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), das gerade sein 100-jähriges Bestehen feiert, auf der Buchmesse zusammengebracht hatte. "Kann Kultur Europa retten?" Chris Dercon (Intendant der Berliner Volksbühne), Asiem El Difraoui (ägyptisch-deutscher Politologe, Volkswirt und Autor) Ulrike Guérot (Professorin für Europapolitik an der Universität Krems und Direktorin des European Democracy Lab in Berlin) und Andreas Görgen (Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt) sollten Antworten auf diese Frage finden.

AA-Ministerialdirektor Andreas Görgen plädiert Deutschland Frankfurter Buchmesse 2017 Dr. Andreas Görgen
Kultur- und Kommunikationsdiplomat Andreas Görgen plädiert engagiert gegen Leitkultur und für SchwimmbäderBild: DW/S. Peschel

Die Frage ist natürlich polemisch gestellt. So schlimm sei es um Europa gar nicht bestellt, darauf weist Andreas Görgen entschieden hin, noch müsse es nicht gerettet werden. "In Deutschland gibt es eine Riesentradition, Kultur als Gesellschaftskitt zu begreifen, als könnte sie unsere Gesellschaft zusammenhalten." Blicke man auf Deutschland, dann "war die größte kulturelle Leistung wahrscheinlich die Erfindung der kommunalen Freibäder in den Siebzigerjahren. Das waren und sind die Orte, an denen Gesellschaft eingeübt wird, und an denen die Leute Gleiche sind." Im Blick auf andere Länder, gerade im Hinblick auf Gesellschaften, "die nicht unseren Maßstäben entsprechen", geht es für Görges bei Kultur um Freiräume, in denen Kunst und Wissenschaft Gegenbilder einer anderen möglichen Welt präsentieren können.

Das kulturelle Erbe Europas

Der ungeliebte Begriff der Leitkultur, möglicherweise einer europäischen Leitkultur, drängt sich Moderator Sebastian Körber, stellvertretender Generalsekretär des ifa, auf. Ulrike Guérot macht kurzen Prozess damit: Sie führt Theodor Adorno ins Feld, der schon in den Fünfzigerjahren festgestellt habe, dass jeder Begriff von Leitkultur protofaschistische Tendenzen habe, weil es immer darum ginge, ein Wir gegen ein anderes Wir zu stellen. Die Aufgabe der Kultur in Europa sei, das Erbe der Französischen Revolution zu bewahren.

Prof. Dr. Ulrike Guérot
Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist für ein solidarisches Europa der kleinen EinheitenBild: Imago/P. Chiussi

"Der erste Weltkrieg war kein Krieg zwischen Nationen, sondern er war ein Krieg zwischen Ungeist und Geist." Ulrike Guérot zitiert den expressionistischen Maler Franz Marc, um auf die Parallele zur Jetztzeit hinzuweisen: den Verrat, anfangs des 20. Jahrhunderts wie heute, an den Idealen der Französischen Revolution, an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das verbindende kulturelle Erbe sei der erste Satz der europäischen Menschenrechtserklärung: "Alle Menschen sind geboren frei und gleich in ihren Rechten." Kultur, das sei die Fähigkeit, diese Solidarität von einer Generation auf die andere zu übertragen. Gefordert sei jetzt die zivilisatorische Leistung, das vereinte Europa als Antwort auf Auschwitz - nie wieder Krieg, nie wieder Nationalismus - an eine Generation weiter zu vermitteln, die nicht mehr mit Zeitzeugen sprechen könne.

"Europa ist eine große Erzählung"

Deutschland Buchmesse Frankfurt 2017 Dr. Asiem El Difraoui
Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Asiem El DifraouiBild: Getty Images/H. Foerster

Zivilisation, Kultur - auch für Asiem El Difraoui geht es in erster Linie darum, Freiräume zu erhalten. Europa und Kultur, das ist für ihn deckungsgleich. "Europa ist nichts anderes als eine große Erzählung, die wir geschaffen haben, und es ist wichtig, dass wir diese Erzählung offen halten", sagt der Terrorismusforscher. Im südlichen Mittelmeerraum werde Europa als Kunst- und Kultur-Großmacht wahrgenommen und als Freiraum, der auch die letzten Freiräume der Zivilgesellschaften in der arabischen Welt unterstützt hat. Europa habe eine große Vorbildfunktion.

Immer neu zu hinterfragen: Heimat und Identität

Eine kritische Existenzfrage ist für Europa die Einbindung der Nationalstaaten. Heimat und Identität sind zentrale Begriffe in der Debatte um Europa, darauf weist Chris Dercon hin. Alle fünf bis zehn Jahre müssten sie neu hinterfragt und mit Inhalten gefüllt werden. Das sei nicht abstrakt, philosophisch, sondern kleinteilig wie ein Puzzle und konkret, im Gefühl des Identitätsverlust vieler einzelner Menschen, in ökonomischen Fragen. Eine Zeitlang habe man geglaubt, die Zukunft sei in der Kombination von Europa und Städten zu suchen, die die Bedeutung der Nationalstaaten schmälern könnte. Das habe sich als falsch herausgestellt. Umso dringender müsse man darüber nachdenken, wie Identität und Heimat im Verhältnis zu Region und Europa stünden.

Welche Rolle die Kultur bei der Integration Europas spielen kann, blieb in der Debatte offen. Dass der Weg zu Gleichheit und Verbundenheit auch mit Geldmitteln für Kultur, Spracherwerb, Austausch und, vor allem, Bildung zu tun hat, war nur ein Gedanke am Rande. "Leitkultur" hat als Begriff und Konzept keinen Nutzwert, darüber war sich die Runde einig. Und auch darüber, dass über Kultur in Europa nicht gesprochen werden kann, wenn man nicht gleichzeitig Freiheit, Heimat, Identität und gesellschaftliche Solidarität mit reflektiert.