Europas Balanceakt mit Belarus
19. August 2020Sondergipfel zu außenpolitischen Themen sind in der EU äußerst selten, die meisten Konflikte werden von sogenannten Kontaktgruppen im kleinen Kreis gelöst. So handelten 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige französische Präsident François Hollande mit Russlands Präsident Putin das Minsker Abkommen zur Entschärfung der Krise auf der Krim und in der Ostukraine aus.
Angesichts der Proteste und ihrer gewaltsamen Unterdrückung in Belarus drängen nun vor allem Polen und Tschechien auf eine machtvolle und gemeinsame Botschaft der EU. Mehrere osteuropäische Staaten sind bei diesem Thema besonders engagiert.
Der tschechische Premier Andrej Babis nannte das Vorgehen der Polizei in Minsk eine "unglaubliche Gräueltat". Der slowakische Premier Igor Matovic bot dem belarussischen Botschafter umgehend Asyl an, nachdem er am Dienstag unter Protest sein Amt niedergelegt hatte.
Einige osteuropäische Staatschefs und Politiker fühlen sich derzeit an ihre eigenen Befreiungsgeschichten von 1989 erinnert, als der "Eiserne Vorhang" fiel. Das benachbarte Litauen beherbergt die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und will sich als Unterhändler in der Krise anbieten. Die Verbindung zwischen beiden Ländern ist eng und reicht weit in die Geschichte zurück.
Vilnius fordert Sanktionen
Am Sonntag soll eine Menschenkette zwischen Vilnius und der belarussischen Grenze die Solidarität der litauischen Bürger zeigen. Und das Parlament in Vilnius beschloss inzwischen, das Wahlergebnis in Belarus nicht anzuerkennen und freie Wahlen sowie Sanktionen gegen die Verantwortlichen wegen der jüngsten Polizeigewalt zu fordern.
Angela Merkel und der französische Präsident Macron appellierten jeweils in Telefonaten mit Präsident Putin, dieser möge seinen Einfluss auf Belarus nutzen. Die Bundeskanzlerin forderte nach Angaben des Regierungssprechers einen Gewaltverzicht gegen friedliche Demonstrierende und die Freilassung politischer Gefangener. Sie betonte auch, dass die Regierung in Minsk "in einen nationalen Dialog mit Opposition und Gesellschaft eintreten müsse, um die Krise zu überwinden".
Auch Emmanuel Macron rief Putin dazu auf, "zur Beruhigung" der Lage "und zum Dialog" beizutragen. Ziel sei es, "die Gewalt gegen die Bevölkerung sofort zu beenden und eine politische Lösung zu finden". Frankreich arbeite vor dem EU-Gipfel eng mit Deutschland zusammen, betonte das Präsidenten-Büro.
Alle Augen auf Putin
Allerdings ließ der russische Präsident keinen Zweifel daran, wen er als eigentlichen Herrn im Lande betrachtet: Putin warnte die europäischen Regierungschefs ausdrücklich, dass jegliche Einmischung in die innenpolitischen Belange von Belarus inakzeptabel sei. Man erwarte außerdem, dass sich die Lage im Land bald beruhigen werde – eine einigermaßen ominöse Feststellung.
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel versuchte, seinen Einfluss in Moskau geltend zu machen. Immerhin versprach Putin ihm, man wolle nach dem Gipfel vom Mittwoch weiter im Kontakt bleiben. Michel hatte die Besorgnis der EU über den Wahlverlauf im Kreml zu Protokoll gegeben, das Maß an Gewaltausübung kritisiert und Wege diskutiert, wie man den internen Dialog fördern könne, um die Krise zu einem friedlichen Ende zu bringen.
Nach dem Treffen der Außenminister in der vergangenen Woche denken Diplomaten über eine Liste von Verantwortlichen nach, die mit persönlichen Sanktionen belegt werden könnten. Aber Quellen im Élysée-Palast plädieren dabei für Vorsicht.
Zwar kritisiert auch Paris den Wahlbetrug in Minsk, aber darauf allein mit Sanktionen zu reagieren, sei keine tragfähige Politik. Sie könnten eine strategische Wirkung gegenüber Russland haben und negative Reaktionen von Putin auslösen. Die EU brauche eine gemeinsame Position, die sich an den Wünschen der Menschen im Land orientiere.
Schweden will vermittlern
Die schwedische Regierung wiederum bietet an, als nächster Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Delegation nach Minsk zu entsenden. Außenministerin Ann Linde könne zusammen mit dem albanischen Premier Edi Rama nach Minsk reisen und dort mit Vertretern der Regierung und der Opposition in Belarus sprechen, um Lösungswege aufzuzeigen, erklärte Stockholm. Albanien hat in diesem Jahr den OSZE-Vorsitz inne.
Und schließlich ist die Frage, wie stark die Worte in der gemeinsamen Erklärung der EU-Regierungschefs ausfallen werden. Ein Freund des Regimes in Belarus sitzt zum Beispiel in Budapest. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto mahnte schon, ein Dialog mit Belarus solle keine weiteren Auswirkungen auf die Beziehungen zu dem Land haben.
Am stärksten ist bisher die Einlassung des Europaparlaments: Alexander Lukaschenko müsse Persona non grata in der EU sein, Gewalt gegen Demonstranten und Unterdrückung der Medien würden aufs Schärfste verurteilt, die EU müsse stark und eindeutig gegenüber dem Regime in Minsk handeln und Russland solle sich der Einmischung enthalten. Das EP muss allerdings nicht für die Umsetzung seiner Stellungnahmen einstehen.
Vorbild "Samtene Revolution"?
"Die Optionen für die EU sind sehr begrenzt", sagt Judy Dempsey vom außenpolitischen Think Tank "Carnegie Europe" in Brüssel. Die Europäer müssten freie Wahlen verlangen und die Freilassung der Gefangenen. Allerdings seien beide Forderungen schwierig umzusetzen, und zu viel hohle Rhetorik sei nutzlos und gefährlich.
Die eigentlichen Entscheidungen müssten in Belarus selbst getroffen werden. Dempsey hofft, dass Oppositionsführerin Tichanowskaja bald zurückkehren und die Proteste kanalisieren werde, um so einer Radikalisierung der Bewegung vorzubeugen.
Immerhin hat sie schon an der Bildung eines Koordinierungsrates mitgewirkt, der sich am Dienstag konstituiert hat, um das Land aus der Krise zu führen und eine friedliche Machtübergabe zu organisieren. Die EU solle die Bürger dabei vor allem durch praktische Schritte unterstützen, sagt Judy Dempsey, Visa- und Handelserleichterungen gewähren, Hilfe für die Medien, Studentenaustausch und vieles mehr.
Als mögliches Modell für eine positive Entwicklung sieht die Außenpolitik-Expertin den Wandel in Armenien vor zwei Jahren. Dort hätten die Menschen ihre eigene Art von Demokratisierung verfolgt und Putin habe sie in Ruhe gelassen. "Wenn Putin in Belarus einen pragmatischen Regierungschef bekommen kann, der nicht die EU-Fahne über dem Land aufziehen will, könnte er damit vielleicht leben."
Für die EU wird die Haltung gegenüber Belarus und Russland ein diplomatischer Drahtseilakt. Zwar verfügt Angela Merkel als derzeitige Ratsvorsitzende dafür über ausreichend Kreml-Erfahrung. Ihre Agenda war allerdings für dieses Halbjahr eigentlich bereits voll.
Aber außenpolitische Krisen sind nicht planbar. Die Bundeskanzlerin will wie zuletzt beim Streit über den Corona-Fonds wieder eng mit Präsident Macron zusammenarbeiten, um die EU zusammenzuhalten und auf eine gemeinsame Position zu verpflichten.