Mehr Machtpolitik wagen
30. November 2021EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte vor zwei Jahren die Richtung vorgegeben: "Europa muss auch die Sprache der Macht lernen", forderte die Deutsche zu ihrem Amtsantritt. Die EU müsse sich gegen führende Staaten wie China, aber auch die USA behaupten können.
Wie dieses Ziel in die Praxis umgesetzt werden kann, ist Teil der neuen sicherheitspolitischen Doktrin, die in Brüssel bis März 2022 entsteht. Den ersten Entwurf dieses "Strategischen Kompasses" hat EU-Chefdiplomat Josep Borrell den 27 Mitgliedsstaaten gerade vorgestellt. Die Gegenwart analysiert der EU-Außenbeauftragte schonungslos: "Europa ist in Gefahr", warnt der Spanier. Die Europäische Union könne es sich nicht leisten, Zuschauer zu sein in einer extrem wettbewerbsorientierten Welt.
Europas Einfluss schwindet
"Die EU muss für die Sicherheit ihrer Bürger sorgen und unsere Werte und Interessen schützen", fordert Borrell und zählt die unterschiedlichsten Konfliktfelder auf. Dazu gehören nicht nur militärische Bedrohungen, sondern auch der Wettbewerb um globale Standards und der Kampf um die Vorherrschaft bei künstlicher Intelligenz, Cloud Computing, Halbleitern und Biotechnologie. Auch die Herausforderungen durch Desinformation und Cyber-Attacken werden erwähnt.
Die neue Machtpolitik bedient sich heute nicht nur traditioneller militärischer Mittel. Borrell warnt auch vor hybriden Bedrohungen, wie sie die EU gerade an ihrer Außengrenze zu Belarus zu spüren bekommt. Sie machen die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden immer schwieriger. Europa, dessen wirtschaftliche und demographische Bedeutung in der Welt stetig sinkt, muss sich in diesem Umfeld behaupten.
Rückkehr der Machtpolitik
Auch wenn der finale Text erst im kommenden Frühjahr vorliegen wird, dokumentiert bereits der erste Entwurf einen deutlichen Wandel des europäischen Blicks auf die Welt. Im Vergleich zur "Globalen Strategie" von Borrells Vorgängerin Federica Mogherini aus dem Jahr 2016 rückt die "Soft Power" der EU spürbar in den Hintergrund. Die "Rückkehr der Machtpolitik" nennt Josep Borrell die Entwicklung, auf die Brüssel auch militärisch reagieren möchte.
Obwohl die Europäische Union seit 2007 eigene Kampftruppen, so genannte Battlegroups, unterhält, hat sich zuletzt in Afghanistan gezeigt, wie gering ihre militärische Handlungsfähigkeit bis heute ist. Dabei verfügt die EU mit ihrem Battlegroup-Konzept seit vielen Jahren über zwei ständig aktive Kampfverbände mit jeweils 1500 Soldaten. Sie sollen Kriege in Konfliktgebieten verhindern und humanitäre Einsätze leisten.
Die alle sechs Monate wechselnden Verbände werden von unterschiedlichen EU-Staaten zur Verfügung gestellt. Aktiviert wurden die Battlegroups in den 15 Jahren ihres Bestehens bislang allerdings in keiner einzigen Krise. "Dass die Battlegroups aus drei bis fünf Staaten nicht eingesetzt werden, liegt auch daran, dass es immer eine 'Leit-Nation‘ geben muss, die das meiste Gewicht mit Material und Menschen umsetzen muss – und die Kosten schultert. Da scheuen sich die Staaten, die an der Reihe sind, dieses Instrument auch zu nutzen", erkläutert der Politikwissenschaftler Joachim Koops von der Universität Leiden in Den Haag.
Umstrittene Eingreiftruppe
Der "Strategische Kompass" definiert nun ein neues Truppenkonzept. Bis 2025 will die EU eine bis zu 5000 Soldaten starke "Rapid Deployment Capacity" (RDC) auf die Beine stellen. Der Verband aus Boden-, Luft- und Marineeinheiten ist umfangreicher als die aktuell vorhandenen Battlegroups und soll je nach erforderlichem Einsatzszenario modulartig zusammengesetzt werden.
Anders als die Battlegroups soll die neue Truppe auch regelmäßig zusammen üben. Bereits 2023 könnten die ersten Manöver stattfinden. Das erklärte Ziel: Mit der RDC soll die Europäische Union auch ohne US-Unterstützung in bewaffnete Konflikte eingreifen, Menschen aus Krisengebieten evakuieren und Flughäfen selbstständig sichern können.
Streit um die Finanzierung
Obwohl der"Strategische Kompass" betont, dass die RDC nicht in Konkurrenz zur bereits bestehenden Schnellen Eingreiftruppe der NATO stehen soll, gibt es noch Vorbehalte in einigen EU-Mitgliedsstaaten gegen das Konzept. Vor allem die Osteuropäer fürchten eine Konkurrenz zum atlantischen Bündnis.
Als Reaktion auf unterschiedliche Vorstellungen und Prioritäten unter den EU-Mitgliedsstaaten will die EU-Kommission in Zukunft bei militärischen EU-Missionen auch auf Artikel 44 des EU-Vertrags zurückgreifen, der die Bildung einer "Koalition der Willigen" erlaubt. Nach einer Grundsatzentscheidung über eine Mission könnte dann eine Gruppe von Staaten alleine voranschreiten, ohne dass jedes EU-Mitglied dann noch Einfluss auf den Einsatz nehmen könnte. Umstritten ist allerdings, ob die Kosten solcher Missionen solidarisch auf alle Länder umgelegt werden.
Mehr Geld für das Militär?
Der Entwurf des "Strategischen Kompasses" hat mehrere Kompromissvorschläge der noch amtierenden deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer aufgenommen. Nun wartet Brüssel darauf, wie sich die künftige rot-grün-gelbe Regierung positioniert. Im Koalitionsvertrag fordern die Partner eine "echte gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa". Die EU müsse international handlungsfähiger und einiger auftreten. Dabei wird auch eine stärkere Zusammenarbeit nationaler Armeen mit gemeinsamen Kommandostrukturen und einem gemeinsamen zivil-militärischen Hauptquartier genannt.
Um die im "Strategischen Kompass" genannten Ziele zu erreichen, müssten allerdings die Verteidigungsausgaben wohl nicht zuletzt in Deutschland deutlich steigen. Schon der Abschnitt über die maritimen Herausforderungen zeigt den Investitionsbedarf. Wenn die EU künftig "Meeresgebiete von Interesse" definiert, wie die Straße von Hormus, erwartet sie, dass europäische Marine- und Luftstreitkräfte dort koordiniert agieren. Deutsche Soldaten dürften also deutlich häufiger im Ausland gefordert sein als heute.
EU-Armee nicht in Sicht
Wichtige militärische Fähigkeiten, die die EU heute noch nicht besitzt, sollen darüber hinaus aufgebaut werden. Hierzu zählen der Lufttransport über lange Strecken genauso wie Führungs- und Planungskapazitäten. "Ein Hauptproblem für die EU ist, dass sie nicht wie die NATO einen großen Militärstab und 70 Jahre Erfahrung in der Kooperation hat, sondern immer nationale Kapazitäten nutzen muss", sagt Politikwissenschaftler Koops. Doch auch hier macht die EU Fortschritte. Nachdem die Verteidigungsminister vor wenigen Tagen 14 weitere Programme beschlossen haben, koordiniert die EU mittlerweile 60 gemeinsame Programme für Waffen und militärische Fähigkeiten.
Die in Sonntagsreden häufig beschworene Europäische Armee, so Koops, ist aber nicht das Ziel dieser Bemühungen. Das verhindere schon die immer noch sehr unterschiedliche Interessen- und Prioritätenliste der 27 Mitglieder: "Es geht um eine Koordinierung von nationalen Streitkräften und Synergien. Es geht darum, die Harmonisierung voranzutreiben, gemeinsam zu trainieren und am Ende gemeinsam in den Einsatz zu gehen."