Gottes Segen statt Corona-Impfung?
23. April 2021Die Rolle religiöser Gruppierungen in der Corona-Pandemie ist nicht nur rühmlich. Zwar nehmen die meisten das Virus ernst und respektieren die Beschränkungen. Doch immer wieder gibt es auch Weigerungen, von religiösen Bräuchen und Veranstaltungen abzusehen. Manchmal scheint der Glaube mehr Gewicht als wissenschaftliche Erkenntnisse zu haben.
Dies gilt besonders für Evangelikale, eine konservative, bibeltreue Strömung innerhalb des Christentums, die vor allem auf dem amerikanischen Kontinent, aber auch in Afrika und Asien verbreitet ist. Von einigen Vertretern wurde die Pandemie mitunter als Zorn Gottes interpretiert. Der einflussreiche US-Prediger und Trump-Vertraute Ralph Drollinger erklärte vergangenes Jahr etwa, Gott habe das Virus zur Menschheit geschickt, weil er wegen Homosexualität und Umweltschutz erzürnt sei.
Ähnlich formuliert es Silas Malafaia, einer der mächtigsten Evangelikalen Brasiliens und Vertrauter von Präsident Bolsonaro, auf seinem Youtube-Kanal. Gleichzeitig relativiert er jedoch die Pandemie, indem er die Corona-Toten mit den "durch Abtreibungen Ermordeten" vergleicht und Angst als ein primitives Gefühl bezeichnet, das der Mensch erst seit seiner Vertreibung aus dem Paradies verspüre.
USA: 45 Prozent der weißen Evangelikalen gegen Impfung
Besondere Brisanz erhalten solche Einstellungen, wenn es ums Impfen geht. Denn lässt sich ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung nicht gegen das Coronavirus immunisieren, gefährdet das die gesamtgesellschaftlichen Bemühungen, Corona einzudämmen.
Dem Pew Research Center zufolge wollen sich 30 Prozent aller US-Amerikaner nicht gegen das Coronavirus impfen lassen. Differenziert man in der im Februar durchgeführten Umfrage nach religiösen Gruppen, so finden sich unter den weißen Evangelikalen die meisten Impfgegner: 45 Prozent gaben an, sich nicht impfen lassen zu wollen.
Auch den Evangelikalen im derzeit besonders von Corona gebeutelten Brasilien bescheinigt eine Umfrage des Instituts Datafolha, besonders kritisch gegenüber Corona-Impfungen zu sein. Demnach wollten sich 14 Prozent der befragten Evangelikalen nicht immunisieren lassen, während es etwa bei den Katholiken nur sechs Prozent sind.
Was ist der Grund, dass Evangelikale die Corona-Impfungen zwar nicht mehrheitlich, dennoch aber zu größeren Teilen als die Gesamtgesellschaft ablehnen?
Jesus wird es schon richten
Zumindest für die USA sieht der Soziologe Richard Flory den "Hyperindividualismus" der Evangelikalen als einen von mehreren Gründen. "Es geht immer um Freiheit. Niemand soll ihnen sagen dürfen, was sie tun sollen - auch nicht bei den Impfungen", so der Forschungsdirektor des "Center for Religion and Civic Culture" an der "University of Southern California" (USC) im Gespräch mit der DW.
Ein weiterer Faktor ist die wörtliche Interpretation der Bibel, so Flory. Konkret auf die Corona-Impfungen bezogen führt dieses Wörtlich-Nehmen dazu, dass manche Evangelikale glauben, Jesus gebe schon auf sie acht und helfe ihnen auch bei einer etwaigen Infektion. Es begünstigt zudem eine allgemeine Wissenschafts-Skepsis, wie sie auch bei der häufigen Ablehnung der Evolutionstheorie zu beobachten ist.
Evangelikale und Wissenschaft - ein Thema für sich
Viele Evangelikale haben sich schon lange daran gewöhnt, der Mainstream-Forschung, zumindest in bestimmten Bereichen, nicht zu vertrauen und alternative Narrative zu entwickeln - das macht sie umso anfälliger für Verschwörungstheorien wie QAnon, bei der rechtes Gedankengut mit Corona-Leugnertum zusammentrifft.
So beeindruckte in entsprechenden Kreisen unter anderem der Mythos, dass Corona-Impfstoffe Zellen abgetriebener Föten enthalten und dass für die Herstellung verstärkt Abtreibungen vorgenommen würden. In Wirklichkeit enthält kein Vakzin menschliche Überreste - einige der Präparate wurden lediglich mithilfe von Zelllinien entwickelt und getestet, die aus dem fetalen Gewebe freiwilliger, legaler Abtreibungen der 1960er Jahre stammen.
Doch nicht alle Evangelikalen glauben an Derartiges, sie sind allgemein keine homogene, einfach zu erfassende Gruppe. Das fängt damit an, dass Evangelikale zwar meist protestantisch sind, "evangelikal" selbst jedoch keine Untergruppe innerhalb des Christentums ist. Vielmehr ist damit meist die ganze Bandbreite konservativer, bibeltreuer Bewegungen gemeint.
Die politische Dimension
"Etwa 25 Prozent der US-Amerikaner sind evangeIikal, aber in diesem Spektrum gibt es viele Unterschiede", bestätigt auch Richard Flory. Er betont zudem, dass Evangelikalismus nicht nur als religiöse Strömung verstanden werden sollte, sondern auch als kulturelle und politische.
So sind Evangelikale - in Brasilien machen sie laut Datafolha 31 Prozent der Bevölkerung aus - zu einem großen Teil Trump- beziehungsweise Bolsonaro-Unterstützer, sie verfolgen eine eigene Agenda und nehmen mithilfe verschiedenster Institutionen Einfluss. Darin sieht Flory ihre eigentliche Macht begründet - und auch ihre Bedrohlichkeit, wenn man so will.
Das Problem, dass sich viele Evangelikale nicht impfen lassen wollen, könnte sich hingegen mit der Zeit von selbst lösen, glaubt der Soziologe: "Die Corona-Verschwörungsmythen werden irgendwann an Bedeutung verlieren, die Aufmerksamkeitsspanne der Leute ist einfach begrenzt. Und wenn sie sehen, dass sie ohne Impfung in ihrem Alltag eingeschränkt sind, etwa ihre Enkelkinder nicht sehen können, ändern bestimmt einige noch ihre Meinung."