US-Kinostart: Wim Wenders und "Every Thing will be Fine"
4. Dezember 2015Wim Wenders ist zurück. Natürlich war der Deutsche auch in den letzten Jahren immer präsent auf den Weltbühnen des Films. Er hat bemerkenswerte Dokumentationen gedreht, ist vielfach ausgezeichnet worden, ist von Festival zu Festival gereist und hat sich den Fragen von wissbegierigen Filmstudenten in aller Welt gestellt. Der Regisseur war zu einem Botschafter in Sachen Film geworden.
"Comeback" des Spielfilmregisseurs Wenders
Wim Wenders war also nie weg. Doch eines hatte gefehlt im letzten Vierteljahrhundert, seit seinem letzten Meisterwerk "Der Himmel über Berlin" im Jahr 1987: die magische Kraft seiner Bilder in seinen Spielfilmen. Mit Werken wie "Der amerikanische Freund", "Der Stand der Dinge" und natürlich "Paris, Texas" hatte sich der deutsche Regisseur einst in der Historie des modernen Kinos verewigt. Wenders war berühmt geworden durch seinen traumhaft sicheren Umgang mit Bild, Ton, Musik und Bewegung - mit einem Wort: für seinen visuellen Stil.
Im Gegensatz zu seinen meisterlichen Dokumentationen fehlten den fiktiven Stoffen, die Wenders in den letzten Jahren auf die Leinwand brachte, etwas ganz Entscheidendes: der Glaube an die Kraft der Bilder. Wenders' Spielfilme wirkten verkopft und angestrengt. Nicht selten hat er in seinen Werken über das eigene Medium Kino reflektiert, hatte seine Protagonisten selbst Kameras in die Hand nehmen und über die Welt der Medien philosophieren lassen. Das war anfangs eine interessante Spielerei, ein intellektuelles Spiel, Futter für Cineasten und Medientheoretiker. Doch seinen Filmen tat das nicht gut.
Eine einfache Geschichte
Mit "Every Thing will be Fine" hat Wenders diese Spielereien jetzt hinter sich gelassen. Er ist zurückgekehrt zu den scheinbar einfachen Geschichten seiner ersten Filme. Er hat wieder Vertrauen gefasst zu seinen Bildern und seiner im Film erzählten Geschichte.
"Trotz der Flut der digitalen Fotos und Filme, denke ich auch heute, dass wir mit komponierten Bildern und dem präzisen Erzählen von Geschichten noch immer genau das leisten können: die Existenz der Dinge und der Menschen erhellen und bewahren", sagt Wenders heute. Die Bilder müssten nicht nur die ständig anströmende Brandung sein, sie können auch Felsen in diesem Strudel sein.
"Every Thing will be Fine" strahlt diese große Ruhe und Gelassenheit aus. Man möchte ihnen fast die Kraft der alten Meister attestieren. Man hat den Eindruck, Wenders wüsste inzwischen ganz genau, was er kann - und muss nicht stetig darauf hinweisen, wie komplex die Zeitläufe sind, wie schwierig es ist, in der heutigen schnelllebigen Zeit Geschichten zu erzählen.
Krise eines Autors
Und so ist die Story, die Wenders in "Every Thing will be Fine" ausbreitet, auch ganz einfach: Der Schriftsteller Tomas überfährt an einem winterlichen Tag irgendwo in Kanada ein Kind. Tomas trägt keine Schuld an dem Unfall. Doch das tragische Geschehen löst bei dem sensiblen Autor eine Krise aus. Er beginnt sich als Mensch, aber auch als Künstler, in Frage zu stellen.
Interessiert habe ihn das Motiv der Schuld, sagt Wenders, "wobei es nicht so sehr darum ging, ob sich dieser Mann bei dem Unfall etwas hat zuschulden kommen lassen oder nicht, sondern um die Schuld, die man in jeder kreativen Arbeit, vor allem aber als Schriftsteller oder Filmemacher auf sich lädt, indem man das reale Leben benutzt oder 'ausbeutet'."
Tomas trennt sich von seiner Lebensgefährtin, nimmt Kontakt zur Mutter des getöteten Kindes auf, lernt eine neue Frau kennen, schreibt weitere Bücher. Die Jahre vergehen. Die Ereignisse lassen Tomas nicht los. Schließlich wird er nach vielen Jahren von dem Bruder des Opfers aufgesucht, der damals den Unfall miterlebt hat, aber selbst mit dem Schrecken davongekommen ist. Genau wie Tomas hat auch er das Geschehene nicht vergessen können.
Individuelle Geschichte - allgemeingültige Fragen
"Wie viel Verantwortung tragen wir?" fragt Wenders, und weiter: "Nicht nur im direkten Sinn, wenn wir als Autofahrer einen Unfall verursachen, sondern auch danach, später: Welche Beziehung gibt es zwischen Fremden, die durch ein traumatisches Ereignis verbunden sind?" Für ihn seien das universelle Fragen, die nicht nur den Schriftsteller Tomas betreffen würden, sondern alle Menschen: "Es geht darum, in welchem Maß wir die Realität anderer auch als unsere eigene Realität akzeptieren und respektieren. Wie gehen wir verantwortlich damit um?"
All diese Fragen stellt sich Wenders in seinem Film. Und er beantwortet sie in einem beeindruckenden visuellen Rahmen. Die zunächst winterliche Szenerie wird ebenso eindrucksvoll eingefangen wie die Jahreszeiten, die folgen. Wenders hat in Montréal und Québec großartige Schauplätze für seinen Film gefunden.
Dazu ist "Every Thing Will Be Fine" in 3D gedreht. Im Vorfeld der Berlinale-Premiere hatte Wenders im Hinblick auf die vielen kommerziellen 3D-Filme aus Hollywood darauf hingewiesen, dass die meisten Regisseure gar nicht die Möglichkeiten dieser Technik nutzen würden, sie lediglich für Effekte und Tricks einsetzten.
"Raum und Tiefe"
Bei "Every Thing will be Fine” habe ihn die Erfahrung mit 3D, die er in "Pina" gemacht hat, geholfen, sagt Wenders: "Da gab es den 'Raum' und eine gewisse 'Tiefe', aber auch etwas ganz Neues, das ich so noch nie wahrgenommen hatte: Die ungekünstelte Gegenwart eines Menschen vor der Kamera hatte eine nie geahnte Dimension." Menschen vor der Kamera und auf der Leinwand hätten eine Präsenz bekommen, die alles sprengten, was er je zuvor gesehen habe, "im alten Kino ebenso wenig wie im neuen dreidimensionalen".
Diese Erfahrung hat Wenders nun erstmals in einem Spielfilm einfließen lassen: "Eine Geschichte, die man mit dieser Art von Präsenz erzählen könnte, würde einem im wahrsten Sinne des Wortes 'unter die Haut' gehen", vermutete der Regisseur: "'Every Thing will be Fine' war genau die richtige Geschichte, um dieses neue, intime Erzählen in 3D zu wagen, weil sich so viel im Innern der Figuren abspielt."
Blick in das wahre Leben
Der Zuschauer nimmt Teil am Leben und Leiden des Schriftstellers Tomas. Er wird hineingesogen in das Leben eines Menschen, den Wim Wenders und sein Drehbuchautor Bjorn Olaf Johannessen erdacht haben. Wie bei allen großen Filmen oder auch Romanen hat es den großen Meistern immer schon genügt, einfach nur vom wahren Leben der Menschen zu erzählen. Man muss nur über die künstlerischen Mittel verfügen, diese Menschen auch vor dem geistigen Auge der Zuschauer lebendig werden zu lassen.