Ex-Jugoslawien bleibt eine Herausforderung
15. Dezember 2020Das Abkommen von Dayton hat den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet. Das ist bis heute seine wichtigste Funktion. Gleichzeitig aber hat er Raum für viele Unklarheiten in dem Land hinterlassen. Die westlichen Staaten erwarten von der bosnischen Bevölkerung, dass sie die entscheidende Wende selber hinbekommt: den Aufbau einer Zivilgesellschaft, die nicht nach nationalistischen Kriterien funktioniert. Solche Versuche gab es bisher schon, die Ansätze wurden aber immer im Keim erstickt - von Interessensgruppen im Land selbst, meist einer lokalen Elite, denen der Aufbau einer offenen Gesellschaft die Existenzgrundlage entziehen würde.
Das Erstarken des serbischen Nationalismus
Zwei Aspekte treten dabei hervor und bedingen sich gegenseitig: Die Unfähigkeit Bosniens, entscheidende Reformen aus eigener Kraft voranzutreiben und die mangelnde Bereitschaft der Internationalen Gemeinschaft, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihr zur Verfügung stehen, um auf die Entwicklung im Land einzuwirken.
Dieses negative Zusammenspiel führt zu einem Erstarken des Nationalismus in dem Land und auch in der Region, vor allem in Serbien. Eine maßgebende Elite dort hält die sogenannte "serbische Frage" für noch nicht gelöst - dies könne erst geschehen mit "der Befreiung und Vereinigung serbisch dominierter Länder und nicht mit einer euroatlantischen Integration oder ähnlichen regionalen Kooperationen", wie es aus serbischer Perspektive heißt.
In der serbischen Hauptstadt Belgrad gibt es die Idee einer Vereinigung aller Serben in einem Staat, bzw. die Bildung einer Achse, die von Belgrad über die Stadt Banja Luka in der Republika Srpska und Podgorica in Montenegro bis nach Mitrovica in Kosovo reicht. Angesichts weltweiter Konflikte mit Grenzverschiebungen und gleichzeitig einem Machtvakuum auf dem Balkan heißt es in Belgrad: "Serbien darf diese historische Chance nicht verpassen".
Ganz offizielle Schriften der serbischen Regierung, abrufbar von deren Webseite, sprechen diese nationalistischen Bestrebungen ganz offen aus. Dazu zwei Beispiele: "Strategie zur Erhaltung und Stärkung der Beziehungen zwischen dem Heimatland und der Diaspora sowie dem Heimatland und den Serben in der Region" (2011) sowie die "Charta über den serbischen Kulturraum" (2019).
Die Strategie der serbischen Elite
Serbien ist wahrscheinlich das einzige Land in der Region des ehemaligen Jugoslawiens mit einer sehr klaren nationalistischen Strategie, an deren Umsetzung eine politische und intellektuelle Elite des Landes aktiv arbeitet. Dies zeigt sich vor allem in der Neu-Deutung der Ereignisse der 1990er Jahre: die Serben hätten damals nicht "strategisch gehandelt, sondern getrieben vom Instinkt und dem Drang zum Selbsterhalt". Nun hätten sie es aber endlich geschafft, "die serbische Frage zu stellen".
Die Politik Serbiens gegenüber der Region hat sich seit dem Sturz des Machthabers Slobodan Milosevic 1999 nicht geändert. Wie vor 30 Jahren kommt aus den Kreisen der nationalen Ideologen immer noch die Bestrebung, den Balkan nach nationalistischen Kriterien neu zu gestalten.
Die "Republika Srpska" als Kriegsbeute
Um das Verhalten Serbiens verstehen zu können, müssen seine geostrategischen Interessen berücksichtigt werden, zumindest so, wie sie von der serbischen Elite definiert werden. In Bezug auf Bosnien und Herzegowina bedeutet dies, dass die "Republika Srpska", der serbisch dominierte Teil des Landes, als Kriegsbeute angesehen wird, von der nicht gelassen werden soll. Die "Republika Srpska" wird von Serbien als ein eigener Staat angesehen, der mit dem Vertrag von Dayton international bestätigt wurde. Das Auseinanderfallen Bosnien und Herzegowinas bzw. die Unabhängigkeitsbestrebungen des serbisch dominierten Landesteils sind ein staatliches Ziel Serbiens. Dem werden sogar nationale Interessen untergeordnet, etwa die Mitgliedschaft in der EU. Aus Sicht des serbischen Nationalismus würde eine Einbindung Serbiens in die europäischen Integrationsprozesse dem Land die Hände binden, wenn es um den Erhalt der "Republika Srpska geht".
Dieser Zustand und auch die Neu-Interpretation der Ereignisse der 90er Jahre, die in der Zwischenzeit als "Verteidigung der Freiheit, Wahrheit und der nationalen Rechte der Serben in der Republika Srpska" gedeutet wurden, bleiben die Haupthürde, wenn es um die staatliche Konsolidierung Bosnien und Herzegowinas geht. Leider führt die historische Manipulation auch dazu, dass sich in Serbien bereits eine Deutung des bosnischen Krieges festgesetzt hat, die im Gegensatz zur historischen Wahrheit steht. Und das trotz der Tatsache, dass die meisten Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien gegen Serben wegen Verbrechen an Bosniaken (bosnischen Muslimen) ergingen.
Die Ignoranz gegenüber diesen Gerichtsurteilen und den vorliegenden Beweisen zum Bosnien-Krieg verschlechtern die Beziehungen des Landes zu Serbien, insbesondere aber auch die Beziehungen zwischen Serben und Bosniaken. Das ist aus mehreren Gründen gefährlich, nicht nur für den Bestand Bosnien und Herzegowinas, sondern auch für die demokratische und europäische Zukunft Serbiens.
Alle bisherigen Bemühungen der Europäischen Union und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel um die Lösung dieser Krise sind am Widerstand des amtierenden serbischen Präsidenten Alexandar Vucic gescheitert, aber auch an dem der serbischen Eliten, weil diese immer wieder die "Republika Srpska" als Faustpfand benutzen.
Bosnien und Herzegowina als stabiler Staat
Um dem Land eine langfristige stabile Perspektive bieten zu können, muss zunächst einmal strikt festgelegt werden, dass es keine Grenzverschiebungen in der Region geben darf. Der Einfluss Serbiens und auch Kroatiens kann nur so gemindert werden. Erst wenn das gesichert ist, können sich die drei großen Bevölkerungsgruppen Bosnien und Herzegowinas - Serben, Kroaten und Bosniaken - der politischen Gestaltung ihres Landes widmen. Ein guter Anfang in diesem Sinne wäre es, wenn sich die Europäische Union stärker in Bosnien und Herzegowina engagieren würde und die europäischen multinationalen Militärverbände (EUFOR) dort aufstocken würde - um Konflikte, die weiterhin eine Gefahr darstellen, zu verhindern.
Sonja Biserko zählt zu den bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen Serbiens. Seit 1994 ist sie Präsidentin des Helsinki Komitees in ihrem Land.