Fünf vor Zwölf in Gaza
19. Juli 2004In seiner langen Karriere als Untergrundkämpfer, Terroristenchef und seit Jahren nun Präsident der palästinensischen Autonomie hat der 75-jährige Yasser Arafat gewiss viele Fehler begangen. Immer wieder aber hat er dann ein erstaunliches Gespür dafür demonstriert, als Sieger aus einer schier ausweglosen Situation hervorzugehen. So sah es zunächst auch diesmal aus: Wieder einmal wuchs Ende letzter Woche die Kritik an Arafats Autonomieverwaltung, an Korruption und mangelnder Reform-Bereitschaft. Nur schlug diesmal der Protest in Gewalt um: Mehrere Entführungen im Gazastreifen beschworen ein Chaos herauf, das sich nun möglicherweise zu tiefgreifenden Veränderungen in der palästinensischen Machtstruktur ausweiten könnte.
Genau das aber will PLO-Chef Arafat unter allen Umständen vermeiden. Obwohl er seit Jahr und Tag in seinem Hauptquartier in der Westbankstadt Ramallah von Israel isoliert wird, tut Arafat alles, um seine Rolle als "Ra'is" - als Führer der Palästinenser weiter zu pflegen. Und das mit einer seltenen Mischung von Hochmut, Stolz und Bauernschläue.
Erst vor wenigen Tagen hatte sich bei Arafat ein alter Freund unbeliebt gemacht, mußte sich als "wertlose Person" beschimpfen und vorübergehend zur "persona non grata" erklären lassen. Terje Roed-Larsen, der norwegische UN-Sonderbeauftragte für Nahost und treibende Kraft hinter dem Oslo-Abkommen von 1993, hatte vor dem UN-Sicherheitsrat moniert, die Autonomieverwaltung versage im Kampf gegen den Terrorismus. Ihr Präsident, Yasser Arafat, trage große Verantwortung für die wachsende Lähmung und das drohende Chaos in den Palästinensergebieten, weil er zu dringend notwendigen Reformen nicht bereit sei. Unter anderem zur Reform der Sicherheitsdienste.
Nach den Entführungen von Gaza schien Arafat verstanden zu haben: Mit den eigenen Anhängern konnte er nicht umgehen wie mit dem Norweger. Vor allem aber: Durch den Aufruhr von Gaza drohte Arafat die Kontrolle zu entgleiten. Ein untrügliches Zeichen hierfür war die Rücktrittserklärung des bisher wenig effektiven Ministerpräsidenten Ahmed Kureia. Arafat nahm den Rücktritt zwar nicht an, aber er wußte, dass es "fünf vor zwölf" war.
Und mit einem Mal verkündete Arafat eine Reform der Sicherheitsdienst und deren Reduzierung auf nur drei – etwas. Wogegen er sich immer gesträubt hatte. Dann aber beging Arafat einen Kardinalfehler: Er setzte seinen Neffen als Chef eines dieser Dienste ein und der Protest gegen solch korrupte Vetternwirtschaft weitete sich erst recht aus, bis Arafat diese Entscheidung wieder rückgängig machte und den eben geschassten Vorgänger zurückrief.
Es sind gerade bisher Arafats treue Gruppen, die da protestieren. Sie befinden sich besonders in Gaza in einem Machtkampf für die Zukunft - für die Zeit nach dem israelischen Rückzug, der bis zum nächsten Jahr vollzogen sein soll. Wenn die
Arafat-Anhänger sich in Gaza schon gegen die islamistischen Fanatiker von Hamas und Islamischem Dschihad behaupten sollen, dann wollen sie sich wenigstens von den Günstlingen des von ihnen immer noch verehrten Arafat befreien.
Dieser ist zutiefst verunsichert, weil er gerade auf diese Günstlinge angewiesen ist. Nichts wäre ihm fremder als ein freies und demokratisches System. Jetzt aber muss sich Arafat davor hüten, dass ihm nicht alles entgleitet. Auch weil Israels Regierungschef Scharon die Situation bereits ausnutzt und mit dem Finger auf den vermeintlichen Haufen von Chaoten in Gaza und der Westbank zeigt, mit denen man doch nicht verhandeln könne. Obwohl Scharon ohne Frage ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür trägt, dass ein solches Chaos erst möglich wurde.