Die Folgen des 4. Juni 1989
4. Juni 2014DW: Das Massaker auf dem Tiananmen-Platz ist jetzt 25 Jahre her. Es wurden schon etliche Bücher über die Ereignisse geschrieben, es wurden Dokumentarfilme gedreht. Was wollten Sie erzählen?
Louisa Lim: Es gibt Bücher und Dokumentarfilme darüber. Aber die meisten erschienen unmittelbar nach den Ereignissen. In den letzten Jahren ist nicht mehr viel aus China selbst geschrieben worden, das sich mit dem Erbe des Tian'anmen auseinandersetzt. Mich hat interessiert, inwieweit die chinesische Regierung Erfolg damit hatte, die Ereignisse von damals aus der Geschichte zu löschen. Ich wollte wissen, was junge Menschen in China über diese Proteste wissen. Und ich war überrascht zu erfahren, wie wenig sie wussten - und wie wenig sie das interessierte.
Wie haben sie das festgestellt?
Ich habe keine wissenschaftlichen Methoden angewendet. Ich habe mit einer Reihe Leuten gesprochen. Und ich bin mit dem berühmten Bild des AP-Fotografen Jeff Widener zu vier Universitäten gegangen. Dieses Bild, auf dem ein einzelner Mann sich erfolgreich einer ganzen Kolonne von Panzern in den Weg stellt. Ich ging zu den Universitäten, die damals am stärksten in die Proteste involviert waren. Ich habe das Bild Studenten gezeigt, um zu sehen, ob sie es erkennen. Und ich war wirklich überrascht, dass von 100 Studenten, denen ich das Bild gezeigt habe, nur 15 wussten, was darauf zu sehen ist. Die anderen zeigten keinerlei Anzeichen eines Erkennens. Sie stellten Fragen wie: Ist das Südkorea? Ist das der Kosovo? Von den 100 Studenten, die ich gefragt habe, dachten sogar 19, es handle sich um eine Militärparade. Das sind mehr als die, die das Bild tatsächlich erkannten.
Lässt sich daraus, dass sie dieses Bild nicht kannten, wirklich ableiten, dass sie nichts über die Ereignisse wussten?
Viele Studenten haben tatsächlich keine Ahnung und kein Interesse. Darüber wird nicht in der Schule gesprochen. Und auch an den Universitäten wird das Thema nur minimal gestreift. In den Geschichtsbüchern für Bachelor-Studenten wird das Thema auf gerade einmal vier Seiten abgehandelt. Der französische Wissenschaftler Michel Bonnin hat diese Bücher untersucht und festgestellt, dass sie massive historische Unwahrheiten enthalten. Im Internet wird jeder Hinweis auf den 4. Juni unterdrückt. Aber das Interesse scheint gar nicht besonders groß. Junge Menschen halten Politik für gefährlich und halten sich fern davon. Für viele ist das Jahr 1989 Alte Geschichte. Ein Student sagte mir: "Wenn ich Historiker wäre oder Archäologe, dann hätte ich vielleicht eine Meinung dazu. Das ist eine weit verbreitete Ansicht. 25 Jahre sind Alte Geschichte. Das hat mit den jungen Menschen nichts zu tun."
Sie haben auch viele getroffen, die damals jung waren. Wie sehen die Aktivisten von 1989 die Ereignisse heute?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen denen, die in China leben und denen im Exil – selbst ihre Erinnerungen unterscheiden sich. Diejenigen, die im Exil leben, erinnern sich an die Ereignisse wie an ein Fest der Ideen. Sie erinnern sich daran, dass zeitweise Hunderttausende, manchmal sogar eine Million Studenten den Platz bevölkerten. Sie erinnern sich an die Momente, in denen es schien, als ob die Studenten die Oberhand hätten. Diejenigen, die in China geblieben sind, haben völlig andere Erinnerungen. Wenn sie zurückblicken scheint die ganze Bewegung durchtränkt mit der Unvermeidlichkeit des Scheiterns, mit der Idee, dass das Massaker am Ende unausweichlich war. Es war sehr interessant zu sehen, wie dieselben Erinnerungen so unterschiedlich ausfallen, wie das politische Klima Erinnerungen prägt.
Wie sehr haben diese Ereignisse das heutige China geprägt?
Ich denke, sie sind in jeder Hinsicht entscheidend für das heutige China. Deng Xiaoping hielt wenige Tage nach dem Massaker eine Rede vor Soldaten, in der er seine Strategie, seine Vision darlegte, seinen Weg für China. Und dieser Weg ist bis heute derselbe geblieben. Deng sprach damals über die Notwendigkeit, die Wirtschaftsreformen weiter zu führen. Und er betonte auch, politische Reformen seien nicht nötig – das ist die Linie bis heute. Er hat gesagt, China brauche einen Mechanismus, um zu verhindern, dass so etwas wieder vorkommt. Das war der Beginn einer Ära der "Stabilitätswahrung", in der Dissidenten und Proteste streng überwacht werden. Und er hat einen Mangel an "patriotischer Erziehung" beklagt, ein Fehler, der die Proteste erst möglich gemacht habe. Diese Worte waren der Ausgangspunkt für eine massive patriotische Erziehungskampagne, die 1991 begann. Ich denke, sie hat zu diesem Aufblühen des Nationalismus geführt und zur Heranbildung einer patriotischen und sogar nationalistischen Generation junger Chinesen. Das heutige China geht in jeder Hinsicht auf die Entscheidungen zurück, die unmittelbar nach der Niederschlagung der Proteste getroffen wurden.
Erweist sich der neue Staatschef Xi Jinping also als gelehriger Schüler Dengs, wenn er jetzt härter gegen Dissidenten vorgeht?
Wenn Sie sich anschauen, wie Chinas Führung vor dem Jahrestag vorgeht, dann erfahren wir eine ganze Menge über die Ängste dieser Führungsgeneration. Dieses Jahr hat die Polizei zum ersten Mal Menschen verhaftet, die im privaten Rahmen in kleinen Gruppen der Ereignisse gedacht haben. Sowohl das private Gedenken als auch das öffentliche wird bestraft. Das zeigt, dass die Führung sehr ängstlich ist - trotz Chinas Position als zweitgrößte Volkswirtschaft mit milliardenschweren Devisenreserven. Sie scheinen wirklich Angst vor Gruppen mit gerade mal einem Dutzend Menschen zu haben, die über den Tian'anmen-Aufstand sprechen. Ich denke das zeigt: Es ist eine sehr paranoide Führung.
Mussten Sie Vorsichtsmaßnahmen treffen, als Sie dieses Buch geschrieben haben?
Ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ich weiß nicht, ob sie nötig waren oder nicht. Aber ich war der Ansicht, ich müsste sie treffen, damit ich das Buch schreiben und in China recherchieren kann. Ich habe Regeln für mich selbst aufgestellt: Ich habe nicht am Telefon über das Buch gesprochen. Ich habe zu Hause oder im Büro nicht über das Buch gesprochen, denn beide liegen in Wohnanlagen für Diplomaten und ich hatte den Verdacht, sie seien verwanzt. Ich habe das Buch nie in E-Mails erwähnt und lange habe ich auch meinen Kindern, die fünf und sieben Jahre alt waren, nicht erzählt, dass ich ein Buch schreibe. Ich hatte Angst, dass sie sich verplappern. Aber mein Risiko war natürlich gering im Vergleich zu der Gefahr für meine Gesprächspartner. Die meisten sind chinesische Staatsbürger und können das Land nicht verlassen. Dass sie dennoch mit mir gesprochen haben zeigt, dass sie der Ansicht waren, es sei an der Zeit diese Geschichten zu erzählen.
Louisa Lim ist Amerikanerin und arbeitet als Journalistin in Peking. Ihr Buch heißt: "The People's Republic of Amnesia. Tiananmen revisited", Oxford University Press, 2014