Putins Blick auf die Geschichte der Ukraine
24. Februar 2022Die Eskalation der Russland-Ukraine-Krise beginnt am Montag mit einer circa einstündigen TV-Ansprache des russischen Präsidenten. Darin verkündet Wladimir Putin die Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk in der Ostukraine - und schweift weit aus, erzählt in Teilen die Geschichte der Ukraine nach. Zumindest aus seiner Perspektive.
Behauptung: "Die moderne Ukraine ist von Russland erschaffen worden"
"Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Russland", so der russische Präsident. Dieser Prozess habe unmittelbar nach der Revolution von 1917 begonnen, Lenin und seine Mitstreiter hätten das abgetrennt, was "geschichtlich gesehen russisches Land ist. Niemand fragte die Millionen von Menschen, die dort lebten, was sie davon hielten."
DW-Faktencheck: Falsch
Laut Putin ist Lenin der "Schöpfer und Architekt" der Ukraine. Seine "Zugeständnisse" - also dass die ukrainischen Gebiete innerhalb der Sowjetunion den Status einer eigenen Republik erhielten - bezeichnet Putin als "schlimmer als einen Fehler".
Putin bezieht sich auf die Nationalitätenpolitik gerade in den Anfangsjahren der Sowjetunion unter Lenin. Den realpolitischen Umständen und Kräfteverhältnissen geschuldet, wurden den nichtrussischen Völkern am Rande der Union gewisse Freiräume bezüglich Sprache, Kultur und Verwaltung zugebilligt.
Die moderne Ukraine ist allerdings insofern nicht von Russland "erschaffen" worden, als dass bereits vor der Einnahme durch die Rote Armee 1920 für circa zwei Jahre ein eigenständiger ukrainischer Nationalstaat existierte, die Ukrainische Volksrepublik. Diese war Frucht ukrainischer Unabhängigkeitsbestrebungen im Russischen Kaiserreich, in das die Gebiete der heutigen Ukraine zum großen Teil bis zu dessen Zerfall 1917 eingegliedert waren. Auch die Gebiete, die bis 1918 zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehört hatten, wurden unabhängig und vereinigten sich 1919 mit der Ukrainischen Volksrepublik.
Der Osteuropa-Experte Guido Hausmann erklärt, auch wenn nicht von Dauer, sei es "zentral, dass es am Ende des Ersten Weltkriegs diese Staatsbildung gegeben hat und diese nicht sozusagen von Russlands Gnaden gewesen ist".
Auch der Historiker Joachim von Puttkamer bescheinigt Putin ein völliges Verkennen der ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen - bereits zu Zeiten des Kaiserreichs, aber auch später in der Sowjetunion. "Dass die Ukraine ein Kunstprodukt der Bolschewiki, also aus sowjetischer Zeit sei, ist mit Blick auf die lange ukrainische Nationalbewegung absurd", so Puttkamer, der den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena innehat. Lenin habe auf eine ukrainische Nationalbewegung und Nationalsstaatsbildung reagiert - und sie nicht erst erschaffen.
Behauptung: "Die Ukraine hatte eigentlich nie stabile Traditionen echter Staatlichkeit"
Putin bestreitet in seiner Rede von Anfang der Woche, dass sich in der Ukraine je eine "stabile Staatlichkeit" entwickelt habe. "Daher entschied sie sich 1991 [Anm. d. Red.: Nach dem Zerfall der Sowjetunion] für die gedankenlose Nachahmung ausländischer Modelle, die nichts mit der Geschichte oder den ukrainischen Realitäten zu tun haben."
DW-Faktencheck: Irreführend
Was der russische Präsident genau mit "stabiler Staatlichkeit" meint, bleibt vage – und Putins Aussage somit schwer zu beurteilen. Jedoch hat es, wie oben dargelegt, sehr wohl vor Zeiten der Sowjetunion einen unabhängigen ukrainischen Nationalstaat gegeben. Dieser war zwar nicht von langer Dauer, nur zwei Jahre - aber ja genau deshalb, weil Sowjet-Russland es eben nicht zuließ und sich die Ukrainische Volksrepublik einverleibte.
Geht man noch weiter in der Geschichte zurück, so gab es zwischen der Zeit unter polnischer Herrschaft (14.-18. Jhd.) und der Zeit unter russischer Herrschaft (18. Jhd.-1917) eine weitere Phase der Unabhängigkeit: Die Kosaken befreiten 1648 fast die gesamte Ukraine von der Herrschaft des Königreichs Polen-Litauen und schufen einen Herrschaftsverband, das sogenannte Hetmanat (Hetman: oberster Anführer des Kosakenheeres). Dieses hatte über 100 Jahre Bestand.
Ebenfalls essenziell ist die politische Ordnung noch vor der polnischen Herrschaft, im Mittelalter: Das ostslawische Großreich "Kiewer Rus". Dieses umfasste die wichtigsten Gebiete der heutigen Staaten Ukraine, Russland und Belarus - alle drei beanspruchen deshalb die Kiewer Rus als ihren Vorläuferstaat.
Guido Hausmann, der den Arbeitsbereich Geschichte am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg leitet, erläutert: "Die russische Argumentation ist, dass dies den Beginn russischer Staatlichkeit markiert. Die Ukraine sieht dagegen den Beginn ihrer Staatlichkeit." Diese "konkurrierenden Ansprüche auf das mittelalterliche Erbe" würden auch in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet, so Hausmann weiter. Fest stehe aber: "Die Ukraine war im Mittelalter nicht nur einfach nur ein Teil Russlands".
Insgesamt war das Gebiet der heutigen Ukraine im Laufe der Geschichte oftmals Bestandteil anderer Staaten: Das gleiche gilt allerdings auch für andere heutige Länder - etwa Deutschland. Als Argument, der heutigen Ukraine eine "stabile Staatlichkeit" abzusprechen, ist diese Tatsache schwach.
Trotz der wechselhaften Vergangenheit der Ukraine und gemeinsamer Wurzeln mit Russland und Belarus im Mittelalter ist eine lange zurückreichende ukrainische Nationalbewegung nicht von der Hand zu weisen. Und nicht zuletzt ist die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion seit nunmehr drei Jahrzehnten ein eigener Staat. Die Unterstützung der Bevölkerung für den Austritt aus der Sowjetunion und die Unabhängigkeit war 1991 überwältigend - über 90 Prozent stimmten in einem Referendum dafür.
Mitarbeit: Rob Mudge