Türkei sperrt YouTube
28. März 2014Erst Twitter, jetzt YouTube: Die Telekommunikationsbehörde TIB begründete die Sperre mit einer "administrativen Maßnahme". Wenige Stunden vor der Sperre war eine Sprachaufnahme in Form eines Videos veröffentlicht worden, die es in sich hat. Die Aufnahme gehört nach offizieller Sichtweise zu den ungeheuerlichsten Videos, die in den vergangenen Monaten durch anonyme Regierungskritiker im Internet veröffentlicht wurden. Kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März wird die islamisch-konservative Regierung unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan bloßgestellt. Denn: Abgehört wurde diesmal angeblich eine Unterhaltung zwischen dem Außenminister Ahmet Davutoglu und den Chefs von Geheimdienst und Generalstab. In dem Gespräch wurde angeblich nach einem Kriegsgrund mit Syrien gesucht.
Das türkische Außenministerium habe die Echtheit der Aufnahme zwar bestätigt und erklärt, dass das Gespräch im Außenministerium stattfand, berichtet die türkische Zeitung Hürriyet. Zugleich habe das Ministerium jedoch betont, dass der Inhalt "verzerrt" sei. "Das Aufnehmen und Verbreiten solch eines Treffens aus dem Büro des Außenministeriums, in dem die sensibelsten sicherheitspolitischen Themen besprochen werden, ist eine verruchte Attacke gegen die nationale Sicherheit der Türkei, ein Akt der Spionage und eine sehr schwere Straftat. Dieser Vorfall zeigt das Ausmaß der elektronischen Bedrohung, der unser Land ausgesetzt ist", erklärt das Außenministerium. Die Verbrecher würden in kürzester Zeit gefunden, der Justiz übergeben und die schwerste Strafe erleiden, heißt es weiter. Auch Erdogan kritisierte die Veröffentlichung während einer Wahlveranstaltung im Osten der Türkei heftig. Er beschrieb die Tat als "unmoralisch, unehrenhaft und widerwärtig".
"Verzweifelte und traurige Entscheidung der Türkei"
Die Netzgemeinde reagierte heftig auf die YouTube-Sperre. "Was fehlt noch, um das Land ins Mittelalter zu versetzen? Eine Facebook-Sperre? Schaltet doch einfach die Elektrizität aus", schreibt ein Facebook-User unmittelbar nach der Sperre. "Jetzt sind Twitter und YouTube in der Türkei gesperrt. Das ist eine absolute Unterdrückung der Meinungsfreiheit", schreibt eine weitere Userin. Als "noch eine verzweifelte und traurige Entscheidung der Türkei", bezeichnete die für digitale Wirtschaft zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes die YouTube-Sperre.
Der türkische Medienaufsichtsrat (RTÜK) verbot sämtlichen türkischen Medien, das Video und dessen Inhalte zu verbreiten. Die Staatsanwaltschaft in Ankara habe bereits Ermittlungen gegen die Verantwortlichen des Videos eingeleitet, berichtet Hürriyet.
"YouTube-Sperre ist in keinem Fall gerechtfertigt"
Die Tonaufnahme erwecke den Eindruck, als würde die Regierung ein internationales Problem kreieren wollen, um die öffentliche Meinung abzulenken, so der Rechtswissenschaftler Bertan Tokuzlu im DW-Gespräch. "Wenn die Regierung einen Kriegsgrund schaffen wolle, dann ist das absolut unvereinbar mit internationalen Rechtsstandards", so Tokuzlu. Doch man müsse auch den anderen Aspekt des Problems beachten, so der Rechtswissenschaftler. "Es geht hier um Spionage. Das angebliche Gespräch fand an einem sicheren Ort statt und es geht um ein sehr sensibles Thema, um die Frage: Krieg oder kein Krieg mit Syrien", so Tokuzlu. Der Inhalt solle offensichtlich an die Öffentlichkeit geraten und die Wahlergebnisse am kommenden Sonntag beeinflussen, fügt der Rechtswissenschaftler hinzu.
Eine Sperrung der gesamten YouTube-Seite sei niemals eine angebrachte Lösung, so Tokuzlu. "Es gibt keine Begründung für die Sperrung ganzer Seiten. Man kann einzelne Accounts oder Videos sperren lassen. Das wäre legitim in so einem Fall", betont der Rechtswissenschaftler. Außerdem sei die YouTube-Sperre nicht mit der Twitter-Sperre gleichzusetzen, so Tokuzlu. "Der Sicherheitsrat in der Türkei hat eine Dringlichkeitssitzung abgehalten. Kurz darauf wurde YouTube gesperrt. Das zeigt die Wichtigkeit dieses Falls", unterstreicht der Rechtswissenschaftler.
Video-Veröffentlichung ist eine schwere Straftat
Im Strafrecht gebe es ein Kapitel über Staatsgeheimnisse und Spionage, erläutert Tokuzlu. "Artikel 330 des Strafgesetzbuches kommt im YouTube-Fall in Frage. Es geht um Informationen, die im Staatsinteresse sowie im Interesse der nationalen und internationalen Sicherheit geheim gehalten werden müssen. Bei Verstoß gegen diesen Artikel durch politische und militärische Spionage muss der Straftäter mit einer lebenslangen Haft rechnen. Das ist eine sehr schwere Straftat", erklärt der Jurist.
In der Tonaufnahme sei auch von Waffenlieferungen an syrische Gruppen die Rede. "Wenn das stimmen sollte und ein Kriegsverbrechen vorliegen würde, dann hat die Öffentlichkeit laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Recht darauf, diese Informationen zu erfahren", erklärt Tokuzlu. Die türkische Regierung reagiere offensichtlich sehr sensibel auf diese Veröffentlichung, konstatiert der Rechtswissenschaftler. Sein Fazit: "Wenn die Aufnahmen ein Beweis für ein Kriegsverbrechen sein sollten, dann könnte es genauso gut sein, dass sie Regierung dadurch in naher Zukunft vor ein Kriegsverbrechertribunal gebracht wird. Es ist ein sehr heikles Thema."