Familie contra Individualität
26. Mai 2003Die perfekte Familie - in der Werbung gibt es sie noch. Die
vierköpfige Bilderbuchfamilie lebt in einem großen Haus, der Vater sorgt für ein gutes Einkommen, die Mutter kümmert sich um die wohl geratenen Sprösslinge und am Wochenende kommen Oma und Opa. Diese Familienidylle existiert in Deutschland immer weniger. Aber wenn nicht in Deutschland, dann doch zumindest im Mittelmeerraum, in Südamerika und in Afrika, oder? Dort gibt es doch noch die traditionellen Großfamilien, denken sich viele Deutsche.
Familie wird großgeschrieben
Aber entspricht dieses Bild der Realität oder verändern sich Familienentwürfe auch dort, etwa in der Türkei? Sowohl als auch, meint Sermin Balci, türkische Sozialarbeiterin in Köln. Sie legt Wert auf eine wirklichkeitsnahe Beschreibung ihrer Heimat: "Die Familie wird in der Türkei immer noch großgeschrieben." Allerdings habe sich Vieles auch geändert, weil die Menschen in die Großstädte gezogen sind. Wohnungen wurden kleiner, Familien wurden kleiner.
Balci arbeitet mit vielen Frauen aus unterschiedlichsten Gebieten und Kulturen der Welt zusammen. Fabiola Santamaria aus Mexiko und die Tunesierin Sihem Bendaleb besuchen regelmäßig die Deutschkurse von Balci.
Beim Blick nach Afrika scheint sich ein ähnliches Bild wie in der Türkei zu ergeben. Noch ist die Großfamilie in Tunesien ein Pfeiler der Gesellschaft, aber auch in ihrer Heimat befinden sich die traditionellen Familienformen auf dem Rückzug, meint Bendaleb: "In Tunesien sind heutzutage Jugendliche auch modern und wollen frei leben. Da gibt es keine Unterschiede zwischen Deutschland und Tunesien."
Familie ist eine Definitionsfrage
Wie aber äußert sich das deutsche Familiengefühl, gibt es überhaupt ein typisch deutsches Familienbild? Und wie hat es sich verändert in den letzten Jahren? Lothar Simon, stellvertretender Leiter der evangelischen Beratungsstelle in Köln, hat alltäglich mit Familien und deren Problemen zu tun. Seiner Ansicht nach gibt es kein typisch deutsches Familienbild, sondern sehr viele unterschiedliche Familienformen: "Von einem hohen Anteil an allein erziehenden Müttern, auch mit einer steigenden Anzahl
allein erziehenden Väter bis zu den Patchwork-Familien und den homosexuellen Lebensgemeinschaften."
Individualismus und Selbstverwirklichung stehen vor allem bei der jungen deutschen Generation an erster Stelle. Simon konstatiert eine zunehmende Verunsicherung in deutschen Familien. Die Scheidungsraten sind hoch, die Institution Ehe wird immer stärker in Frage gestellt. Ergebnis: Immer mehr Familien bestehen aus Stiefeltern und Halbgeschwister, die so genannte Patchwork-Familie. Die Verbundenheit mit der Familie und der regelmäßige enge Kontakt mit den Angehörigen wird eigenen Zielen und Lebensplanungen unterworfen, so Simon.
Familie als Sozialsystem
Fabiola Santamaria aus Mexiko hat für diese Entwicklung wenig Verständnis. Wenn sie von den mexikanischen Familientraditionen spricht, merkt man ihr die tiefe Verbundenheit zur Familie an: "In Mexiko sind die Familien zusammen, da der Kontakt mit Familie und Geschwistern wichtig ist."
Den deutschen Familienentwürfen stehen die Frauen aus Tunesien, Mexiko und der Türkei kritisch gegenüber, obwohl die Institution Familie auch in ihrer Heimat starken Veränderungen unterworfen ist. Auch dort gleicht sich das Familienbild immer mehr den westlichen Ideen an.
Dennoch legt Bendaleb Wert auf die Feststellung, dass eine
bedingungslose Unterstützung für alle Familienmitglieder trotz persönlicher Identität nicht in Frage gestellt wird. Die Türkin Balci sieht in Deutschland vor allem bei der jungen Generation Versäumnisse: "Mir gefällt nicht so, dass viele junge Deutsche ihre Familie, ihre Eltern nicht mehr besuchen, nicht mehr anrufen und sich nicht mehr um sie kümmern, wenn sie alt und krank sind."
Angesichts sehr unvollkommener Sozialsysteme sorgt die Familie in vielen Ländern der Welt immer noch für ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Und in Deutschland geben auch die neuen Familienformen Rückhalt und Geborgenheit.