Farage setzt alles auf eine Karte
7. Mai 2015"N'Abend zusammen! Alle bereit für die Revolution?" Ein Mann in den Vierzigern bestellt in einem Pub an der pittoresken Uferpromenade von Ramsgate ein Pint Ale und schlendert hinüber zu vier anderen Männern, die ein paar Jahre älter aussehen als er. Mit der "Revolution" bezieht er sich auf Nigel Farage, den Vorsitzenden der EU- und migrationskritischen United Kingdom Independence Party, kurz UKIP.
Farage hat ein Buch geschrieben: "Die lila Revolution" - in Anlehnung an die Parteifarbe der UKIP, der Partei, die er 1993 selbst gründete, nachdem er aus der Konservativen Partei ausgetreten war. Darin schreibt Farage sehr deutlich: Entweder er gewinnt bei den anstehenden Parlamentswahlen am 7. Mai zum ersten Mal in seiner Politikerkarriere einen Sitz im britischen Unterhaus oder er gibt seinen Posten als UKIP-Vorsitzender auf. Nun ist der Moment der Wahrheit nah.
Farages Spuren
Farages Kandidatur hat einen ziemlich heruntergekommenen Teil des Vereinigten Königreichs ins Rampenlicht gerückt: Der Zug braucht zwei Stunden für die 125 Kilometer zwischen London und Ramsgate. Schon am winzigen Bahnhof der Hafenstadt wird klar, dass dies keine gewöhnliche Woche an der Küste der Grafschaft Kent im Südosten Englands ist: Zwei Kamerateams sitzen dort im Café und sichten ihr Filmmaterial. Vor der Bahnstation ist ein Radioreporter auf der Jagd nach Stimmen lokaler Wähler.
Auf dem Weg ins Zentrum erklärt ein Wahlplakat den Passanten, dass man die Kontrolle der Grenzen nur der UKIP anvertrauen könne. Doch mehr Aufmerksamkeit als das Plakat selbst zieht das plumpe Graffito auf sich, das Farages Foto unter anderem mit einem Hitler-Bart verunstaltet.
Vereinzelt zeigen die Bewohner von Ramsgate in ihren Fenstern, für welche Partei sie am Donnerstag stimmen werden. Es sind wenige, aber sie lassen erkennen, dass hier nur zwei Kandidaten eine Chance haben: Nigel Farage von der UKIP und Craig Mackinlay von der Konservativen Partei.
Laut Umfragen ist Mackinlay der Einzige, der Farage den Parlamentssitz tatsächlich streitig machen kann. Lange lag Farage vorne, doch der Konservative hat aufgeholt. Vor dem Urnengang steht das Rennen auf Messers Schneide.
Die Wahlkampfzentrale
Das Hauptquartier des UKIP-Wahlkampfs liegt recht zentral in Ramsgate. Dennoch geht es einen Tag vor der entscheidenden Wahl eher ruhig zu. Am Eingang fragt mich ein misstrauischer junger Bursche spitz, wer ich denn sei, bevor er einen Pressesprecher namens John ruft, der einen herzlichen Gesichtsausdruck zur Schau trägt.
"Nigel sammelt seine Kräfte", sagt John. Eine große Wahlkampfrede habe er am Morgen gehalten, am Abend wolle er im nahegelegenen Broadstairs seiner Kandidatur noch einmal richtig Schwung verleihen. Der letzte Auftritt vor dem großen Tag sei für Parteigänger, ausgewählte Pressevertreter und unentschlossene Wähler, sprudelt es aus John heraus.
Ob Farage noch irgendetwas zu Robert Blay zu sagen hat, will ich wissen. Blay war UKIP-Kandidat im Bezirk Hampshire und wurde zwei Tage vor der Wahl von seiner Partei suspendiert, weil er vor laufenden Kameras seiner Abscheu vor seinem tamilisch-stämmigen Rivalen, dem Konservativen Ranil Jayawardena, freien Lauf ließ: Jayawardena sei nicht britisch genug, um in Westminster zu sitzen, und er werde ihm persönlich eine Kugel verpassen, sollte Jayawardena je Premierminister werden. Pressesprecher John jedenfalls hat dazu nichts zu sagen und rät mir, mich später in Broadstairs noch einmal umzuhören.
Zwischen Buchmachern und Frittenbude
Zwei Ausschnitte aus der Boulevardzeitung "Daily Express" hängen neben dem Wahlkampfmaterial im lila-dominierten UKIP-Quartier aus. Das Blatt unterstützt normalerweise die Konservativen. Diesmal jedoch setzten die Macher auf UKIP. Der Eigentümer Richard Desmond spendete der Partei sogar eine Million Pfund (1,34 Mio. Euro) - mehr ist nicht erlaubt bei britischen Wahlen.
"Warum Sie Nigel Farage wählen sollten", titelt ein Zeitungs-Ausschnitt. Der Artikel zählt Farages Wahlversprechen detailliert auf: Ganz oben steht ein aufgeschobenes Flughafenprojekt, das der Region Aufschwung verleihen soll.
Wohlhabend war Kent nie, doch nach dem Niedergang der Fischerei-Industrie und dem Weggang des Pharma-Konzerns Pfizer steht es erst recht nicht gut um die lokale Wirtschaft. Und so sieht es in der Nachbarschaft des UKIP-Büros aus: Ein Wettbüro und ein Zeitungsstand flankieren die Partei-Zentrale, gegenüber gibt es Fish and Chips und einen Obststand. An der Ecke befindet sich ein Iceland-Supermarkt - nicht gerade das Premium-Segment des britischen Einzelhandels.
Der UKIP entgegentreten
Einen Block weiter geht ein halbes Dutzend Menschen auf Passanten zu und verteilt Handzettel. Sie gehören zur Gruppe "Stand up to UKIP", sie wollen also "UKIP die Stirn bieten".
Nick - lockiges Haar, roter Kapuzenpulli, Anfang Dreißig - sagt, er sei im letzten Monat mehrfach nach Ramsgate gekommen. Zwei Stunden koste ihn eine Strecke, aber er sei in Kent aufgewachsen. Das sagt er auch den Leuten, um seine lokale Glaubwürdigkeit zu bekräftigen.
Nach einigen Minuten deutet Nick unruhig auf einen großen Mann mit kurz geschorenen Haaren. "Der ist von UKIP", sagt Nick, "Er brüllt uns schon den ganzen Tag an, obwohl er eigentlich Niederländer ist. Das habe ich nie ganz verstanden."
Ihr Anti-UKIP-Material zu verteilen, sei nicht immer ganz einfach, sagt Nick: "Wir müssen vorsichtig sein. Viele Menschen nehmen Anstoß an unseren Aktionen, weil sie sich als Rassisten abgestempelt fühlen."
Im April wurden Aktivisten von "Stand up to UKIP" in Ramsgate attackiert - von Faschisten mit Kontakten zur UKIP, sagen Mitglieder der Gruppe. Farages Partei bestreitet das.
Taktische Wahl gegen Farage
Nick glaubt, dass ein großer Teil des UKIP-Erfolgs dem Mangel an politischen Alternativen geschuldet ist. Viele britische Wähler seien vollkommen unzufrieden mit den etablierten Parteien und wären deshalb offen für Protest-Wahlen.
Nick selbst will seine Stimme den Grünen geben. Der Kandidat der Grünen in South Thanet, Ian Driver, hat seinen Anhängern über Twitter geraten, für den konservativen Kandidaten zu stimmen, um Farage zu stoppen. Der Labour-Kandidat Will Scobie habe das nicht getan, sagen Freiwillige der Arbeiterpartei im Hafenviertel von Ramsgate. "Ich hätte das sogar in Erwägung gezogen", sagt eine Frau in labour-roter Strickjacke, "aber das Problem ist, der konservative Kandidat war selbst einmal UKIP-Mitglied."
War es Taktik der Konservativen, einen Kandidaten mit lila Vergangenheit aufzustellen, um South Thanet zu gewinnen? Die Dame in Rot blickt zu Boden, bevor ihr Kollege mit einem Lächeln antwortet: "Wir haben bis zuletzt auf einen anderen Gegenkandidaten für Farage gehofft."
South Thanet hat sich in den letzten Wahlen als eine Art Stimmungsbarometer erwiesen: 1997 spiegelten sie das Wahlergebnis in Großbritannien: der konservative Abgeordnete wurde von einem Labour-Kandidaten abgelöst - so wie Tony Blairs Arbeiterpartei die Tories im Unterhaus nach 18 Jahren als stärkste Kraft ablöste. Bei den letzten Wahlen 2010 stimmten die Wähler von South Thanet dann erneut für den Wechsel und schickten wieder einen konservativen Abgeordneten in die Regierungskoalition nach Westminster.
Ein Sieg in South Thanet würde die Tories einen Sitz näher an ihre Parlamentsmehrheit bringen. Vor zwei Monaten schien das noch aussichtslos, doch dass Farage mit seiner Kandidatur diese verschlafene Region in den Blick der Öffentlichkeit gerückt hat könnte seine "lila Revolution" zu einem abrupten und endgültigen Ende bringen. Zumindest für einen Moment schenkt auch der Rest des Landes - und vielleicht sogar der Welt - Orten wie Ramsgate ein wenig Aufmerksamkeit.