Faulenzen tut Not!
20. Juli 2002Claudia ist genervt: Seit anderthalb Jahren hat sie kein Buch mehr ganz ausgelesen, geschweige denn angerührt. Ihre Freunde werden vernachlässigt, und einfach nur auf der Couch sitzen bei einer Tasse Kaffee ist auch nicht drin.
Doch zum Glück gibt es Urlaub. Davon haben die Deutschen im Schnitt 30 Tage im Jahr und stehen damit so gut wie an der Spitze aller Nationen. 30 Tage ausspannen, 30 Tage Kontrast zum stressigen Alltag, der immer schneller zu werden scheint, immer weniger Pausen zum Durchatmen übrig lässt.
Wechselspiel der Gefühle
Beim Durchatmen und Pausemachen hapert es allerdings bei vielen, auch bei Claudia. "Wenn ich in einer alltäglichen Stresssituation stecke - Regen, Stress, Stau, egal - dann träume ich davon, mal zwei Tage lang an die Nordsee zu fahren; mutterseelenallein in einem Liegestuhl mit einem guten Buch dort zu liegen. Aber ist es dann soweit, habe ich solch eine Panik dort hinzufahren und mich zu langweilen, dass ich das gar nicht ertragen kann."
Runterschalten? Geht nicht!
So kommt es, dass viele den Urlaub nicht zu Entspannung und Müßiggang nutzen - wie 75% das angeblich gerne tun würden - sondern ihr rasantes Programm auch dort weiterführen. Gebucht am Last-Minute-Schalter, beginnen die schönsten Wochen des Jahres am Quick-Check-In und enden im Hotel mit dem Quick-Check-Out. Dazwischen: Trekking im Himalaja, Bungee-Springen in Südafrika oder Städteurlaub mit Kulturprogramm bis die Füße wund gelaufen sind. Mal einen Gang runterschalten? Das scheint dem deutschen Urlauber nicht im Blut zu liegen.
Das Recht auf Faulheit
Dr. Inge Hofmann, Biochemikerin und Autorin, spricht sich für einen Faulheits-Trainer im Urlaub aus. "Wenn man zu Hause in so einem Trott läuft, macht man das auch gerne in der Ferne weiter. Die Bereitschaft nachzudenken ist oft nicht sehr ausgeprägt." Sie fordert ein bewusstes Umdenken, um davon wieder runterzukommen. Für sie ist Faulheit lebensnotwendig, weil auf Anspannung Entspannung folgen muss. Wenn die ausbleibt, leiden Körper, Geist und Seele enorm.
Faul sein fällt schwer
Um dem vorzubeugen, ist ein komplett neuer Wirtschaftszweig entstanden mit enorm hohen Zuwachsraten: die Entspannungsindustrie, auch bekannt unter dem Begriff "Wellness". Besuch bei der Kosmetikerin, im türkischen Hamam, Pool, Sauna, dazwischen ein bisschen Tai Chi, nach dem Abendessen eine Runde Yoga.
Trotzdem: Faul sein ist nicht leicht. Schließlich gilt das Credo: Zeit ist Geld. Insbesondere in Deutschland wird Geschwindigkeit häufig mit Fortschritt verwechselt. Das Resultat: Deutsche fühlen sich nicht nur ständig unter Zeitdruck, sie leiden auch viel häufiger unter Herzbeschwerden. Und obwohl die meisten wissen, dass sie spätestens im Urlaub die Notbremse ziehen müssten, fällt es ihnen ungemein schwer, langsam, passiv und unproduktiv zu sein.