5. Februar 2007
Etwas schleppend kommt Fazil Say auf die Bühne des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle, entspannt hängen die Arme herab, beiläufig geht er zum Flügel, als sei das hier eine Probe, unter der schlabberigen Samtjacke trägt er ein silberfarbenes T-Shirt. Lässig, aber nicht lässlich wird er gleich den Abonnenten der Klavierreihe des alteingesessenen Veranstalters einen beeindruckenden Konzertabend bieten. Wie stets scheut er das Risiko um des Ausdrucks willen nicht. Bachs sechste französische Suite bebt sinnlich; Say zeichnet prägnant die Kontrapunktik nach, kurz federnd im Klang, ohne trocken zu sein. Mit seinen spitz zulaufenden schwarzen Stiefeletten tritt er die Pedale, mehr das linke, für die Verschiebung, immer wieder mit schattenhaften Pianoeffekten überraschend. Über dem rechten Pedal schwebt der Fuß minutenlang, ohne den Boden zu berühren, um dann federleicht aufzutippen und einen schwingend-nachhallenden Akzent zu setzen. Wer fasziniert das Fußballett verfolgt, versäumt Fazil Says Mienenspiel und das Kreisen seines Oberkörpers, den Vogelflug der Finger, die gerade nicht gebraucht werden und den Tönen nachzuwinken scheinen. Was bei anderen als zirkushafte Attitüde peinlich wirkt, gehört – das merkt der kritischste Hörer – beim 36-jährigen Türken auf natürliche Weise zum Musizieren.
Begegnet man Fazil Say abseits der Bühne, könnte man vermuten, dass er auch gut in einem Fatih-Akin-Film auftauchen könnte. In Kapuzen-Sweatshirt, Cargo-Hose und Turnschuhen, mit iPod-Knöpfen in den Ohren wartet er im messingblitzenden Hotelfoyer. Sieht so ein klassischer Pianist aus? Er tippt auf dem Handy herum, raucht und erklärt anschließend im Interview, was ihn auf dem Podium bewegt – und man versteht, dass sein Singen, Summen und das Streicheln der Musik in der Luft ohne Umweg aus ihm herauskommt.
Immer wieder ist er für überraschende Antworten gut: „Ich übe nicht am Klavier – der Klavierklang ist sehr langweilig, wenn man ihn eine halbe Stunde gehört hat.“ Er schmunzelt, gefragt, ob er sich wie Krystian Zimerman oder Alfred Brendel vor dem Konzert mit der Mechanik des Flügels beschäftigt, den Stimmer instruiert. „Mein Ziel ist es, über dem Klavier zu stehen – das ist ein Kampf. Manchmal wünsche ich, den Klavierklang vergessen zu können, damit man der inneren klanglichen Vorstellung und der Geschichte des Stücks folgen kann. Wir sind als Musiker keine Techniker, wir wollen etwas erzählen. Manchmal erfährt man eine Niederlage, und es gelingt nicht. Aber wenn es gelingt, dann wird die Seele zum Körper.“ Und dann geschieht es eben, dass Fazil Say auf dem Klavierhocker sich zurücklehnt und nach oben schaut oder einen entfernten Punkt fixiert – er ist ein inwendiger Musiker. „Wenn ich dann daneben greife, geschieht das nicht aus Unvermögen, sondern weil ich auf ein imaginäres Bild konzentriert bin, und dann sehe ich eben das G nicht.“ Überwiegend, „zu neunzig Prozent“, wie er sagt, stimmt die Tagesform: „Sonst säßen Sie nicht hier, um mit mir zu sprechen – denn ich wäre Solfège-Lehrer in Ostanatolien.“
Noch spielt er 100 bis 120 Konzerte pro Saison, vom nächsten Jahr an werden es 60, 70 sein. Say will mehr komponieren. Im August 2006 hat er bei Schott einen Vertrag unterschrieben. Er befindet sich beim altehrwürdigen Mainzer Musikverlag in bester Gesellschaft neben toten und lebendigen Komponistengrößen: Hindemith, Ligeti, Nono und Dutilleux, Henze, Eötvös, Widmann und Reimann. Bei Ligeti und Henze hat er Meisterklassen absolviert, und er fühlt sich stilistisch frei: „Ich bin keiner, der in einer Sprache schreibt, wie andere Komponisten – ich habe größten Respekt vor denen. Aber ich will neue Klänge entdecken, wie jetzt bei meinen Filmkompositionen; mit den Soundtracks fühle ich mich gerade sehr wohl.“
Eigentlich ist es leicht, Fazil Say auf einen Nenner zu bringen: Er ist Musiker. Man bekommt alles von ihm, Jazz und New Age, Violinsonate und Oratorium, Klavierkonzert und Ballettmusik, Kadenzen und „4 Pieces for DJ and Piano“. Im Januar 2008 wird in Luzern ein Violinkonzert, das er für Patricia Kopatchinskaja schreibt, uraufgeführt. Say kann sich sich genauso in Montreux wie in Donaueschingen vorstellen: „Ich bin gegen Tabus! Als Miles Davis Ende der 1980er Jahre nach Darmstadt kam, gab es großes Erstaunen. Warum? Musik ist Musik.“
Says Verhältnis zu Plattenproduktionen ist zwiespältig. Ein spontaner Künstler wie er braucht den Austausch mit dem Publikum. Auch wenn das im Konzertsaal nicht immer so wirkt: Den Energiezustand im Saal nimmt er wohl wahr. „Aufnahmen sind etwas sehr Schweres. Es gibt kein Publikum, man droht von seinen Gedanken gefangen genommen zu werden, die das Musikmachen behindern. Ich bin nie zufrieden mit meinen Aufnahmen. Glenn Gould war einer der wenigen, die im Studio gut waren, dafür hatte er Probleme mit dem Publikum.“ Say sieht die Relevanz des Mediums realistisch: „Ich habe 2.000 CDs. Aber ich liebe nur 20 oder 30, das wird Ihnen doch ähnlich gehen?“ Trotzdem, nach seinem Wechsel von Teldec/Warner zu Naïve stehen natürlich weitere Produktionen auf der Agenda. Demnächst wird eine CD mit fünf Haydn-Sonaten herauskommen, in den kommenden drei Jahren werden drei Titel veröffentlicht, allerdings ausschließlich mit Werken des Komponisten Fazil Say, vor allem Orchesterwerke, Kammermusik und Stücke, die traditionelle türkische Instrumente einbeziehen.
Befragt nach seiner Identität, sagt Say zwar „Ich bin ein Mensch – so lange wir atmen, leben wir auf diesem einen Planeten“. Doch natürlich sind Says türkische Wurzeln evident. Selbstverständlich hat er 2005 in Stuttgart das deutsch-türkische Kulturfestival Simdi mit einem Konzert eröffnet, mit Mozart und eigenen Werken: Er ist gegen Ausschließlichkeit, für kulturelle Vielfalt. Das sollten Konzerte widerspiegeln. So gibt er als „Exklusiv-Künstler des Konzerthaus Dortmund“ im Mai 2007 einen Projektabend, bei dem neben Strawinsky und Mozart Says Ballettkomposition „Patara“ nach Motiven von Mozarts A-Dur-Sonate KV 331 instrumentiert für Klavier, Sopran, türkische Ney und türkisches Schlagzeug auf dem Programm steht. 2002 ist Say in seine Heimat zurückgekehrt. Nach acht Jahren in Deutschland und sechs in New York lebt er nun in Istanbul: „Heimweh“ und praktische Gründe gaben den Ausschlag. „Europa war immer wichtiger für mich. In zwei, drei Flugstunden bin ich von Istanbul aus am Konzertort; in den USA bin ich jetzt nur einmal pro Jahr für eine Tournee.“
So sehr Say „das Adrenalin des Klavierspielens, der Konzerte“ braucht: Gleiche Bedeutung hat für ihn das Komponieren und das, was man am besten als Kommunikation bezeichnet. Im nächsten Jahr wird zum achten Mal das Antalya Piyano Festivali stattfinden, für dessen Programm er verantwortlich ist. Es ist ein Klavierfestival für alle Genres, dort wird Jazz, New Age, Weltmusik und Klassik aufgeführt. Musik für dieses Instrument soll weitgefasst begriffen werden, das ist dem Multitalent wichtig: 2007 kommen Chick Corea, Aziza Mustafa Zadeh und Lang Lang, in den vergangenen Jahren war ein Uri Caine genauso vertreten wie Jean-Philipe Collard. Im Zentrum, so Say, stehe immer die Kommunikation, die an einem solchen Ort entsteht zwischen Künstlern und Publikum. „Von mir aus kann jemand einen ganzen Abend Ligeti-Etüden spielen, aber er muss jede einzelne vorher erklären.“
In pädagogischer Mission ist der Pianist in der tiefsten türkischen Provinz gewesen. Er hat in Schulen Schnellkurse in klassischer Musik gegeben, Debussy, Mozart und eigene Werke in einer Stunde gemischt und den ihnen innewohnenden „Soundtrack“ erklärt: „Mit dem Verstehen der Musik kommt die Liebe – das ist die natürliche Reihenfolge.“ In der Türkei ist diese Liebe wenig ausgeprägt, „hier interessiert sich einer von tausend für westliche Kultur“, meint Say, „die Gegenwartskultur ist bestimmt von Pop und Nachtleben“. Und er macht uns Westeuropäern wenig Hoffnung, dass es mittelfristig bei uns wesentlich besser aussehen wird, wenn man nicht auch hier intensive Basisarbeit an den Schulen leistet.
Im Gegensatz zu den Lamentosängern unter den klassischen Musikern engagiert sich Fazil Say. Zerteilen kann er sich nicht, so knapst immer ein Teil von ihm vom anderen ab: der Organisator vom Pädagogen vom Komponisten vom Pianisten – nur der Dirigent bleibt verschont. Dirigieren will er auf keinen Fall. Deshalb gibt es für ihn auch noch etliches zu entdecken und zu erarbeiten. „Ich habe rund 35 Klavierkonzerte drauf, andere Pianisten im Schnitt 80, 90.“ Gerne würde er alle Beethoven-Konzerte parat haben, Nummer eins, zwei und vier fehlen. Von Rachmaninow hat er nur das zweite Konzert und die Paganini-Variationen im Repertoire, Szymanowski, Bartók und Prokofjew reizen ihn. Vom Solorepertoire ist noch gar nicht die Rede, von Maurice Ravel oder George Enescu, mit denen er sich gerade beschäftigt. Und mit Bach natürlich, immer wieder Bach, bei dem es stets etwas zu entdecken gibt.
Andererseits bekennt Say, gewisse Werke nicht aufführen zu wollen, wegen Prägungen, weil sein Vorstellungsvermögen durch Vorgänger eingeschränkt ist. Hier offenbart sich, wie schwer es heute ist, ein Musiker zu sein, der sich mit historischen Texten befasst. Fazil Say steht prototypisch für den modernen Musiker, der in einer medialen Gesellschaft lebt – im Gegensatz zu vielen anderen ist er sich dessen bewusst. Relativ wenig hat er zum Beispiel Werke von Frédéric Chopin im Repertoire. „Seit ich 18 Jahre alt war, habe ich die besten Chopin-Stücke auf Platte ziemlich unüberbietbar von Arturo Benedetti Michelangeli und Samson François gehört – mein inneres Erleben dieser Werke ist so besetzt. Das ist, als ob ich Art Tatum nachspielen wollte; das ist perfekt und abgeschlossen, wie er es auf Schallplatten hinterlassen ist. Ich kann das natürlich transkribieren – aber das Gefühl von dem Werk in mir drin ist besetzt.“ Also komponiert Fazil Say lieber selbst und begeistert sein Publikum bei den Zugaben mit „Black Earth“ oder seinen Paganini-Variationen.
CD-Tipp:
Beethoven, Sonaten op. 57 „Appassionata, op. 53 „Waldstein“ und op. 31 Nr. 2 „Sturm“;
CD VA 5016
Demnächst neu:
Haydn, Sonaten Hob. Hob. XVI: 10, 31, 35, 37, 43;
CD AV 5070
Alle bei Naïve/Harmonia Mundi