FDP zwischen Scheintod und Wiedergeburt
8. Dezember 2013In den USA muss man mindestens 35 Jahre alt sein, um Präsident werden zu können. In Deutschland kann man 40 Jahre jung sein und seine politische Zukunft bereits hinter sich haben. So scheint es Philipp Rösler derzeit zu ergehen. Der FDP-Politiker ist noch Stellvertreter von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), sogenannter Vize-Kanzler. Dieses Amt wird er kurz vor Weihnachten verlieren, wenn Konservative und Sozialdemokraten, wie allgemein erwartet, ihre angestrebte Regierungskoalition besiegeln.
Ein anderes Amt hat Rösler auf einem außerordentlichen Parteitag der FDP bereits niedergelegt. Er trat, wie nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl am 22. September angekündigt, als FDP-Vorsitzender zurück. Damals schickten die Deutschen eine Partei in die außerparlamentarische Opposition, die dem Bundestag Zeit seines Bestehens 64 Jahre lang angehört hat. Mit 4,8 Prozent scheiterten die Liberalen dramatisch knapp an der Fünf-Prozent-Hürde.
Der Hoffnungsträger ist 34 Jahre alt
Damit fehlt im Bundestag erstmals eine Partei, die seit Gründung der Bundesrepublik 44 Jahre an der Regierung beteiligt war - länger als jede andere Partei. Die FDP stellte 1949 mit Theodor Heuss den ersten Bundespräsidenten und mit Hans-Dietrich Genscher von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen Deutschlands in der Welt wohl einflussreichsten Außenminister. Herausragendes Ereignis seiner Amtszeit war die deutsche Wiedervereinigung.
Dieser kurze Rückblick auf die Geschichte verdeutlicht, dass der Niedergang des organisierten Liberalismus in Deutschland tatsächlich eine "historische Zäsur" ist. Das sagte der mit 79 Prozent der Stimmen gewählte neue FDP-Vorsitzende Christian Lindner.
Er ist 34 Jahre jung, könnte also im Moment noch nicht einmal theoretisch US-Präsident werden. Die Mehrheit der FDP-Mitglieder hält Lindner aber für reif genug, es besser zu machen als der sechs Jahre ältere Philipp Rösler. Der hat auf dem außerordentlichen Parteitag in Berlin die Hauptlast der Verantwortung für den Absturz der FDP übernommen. Er habe die Erwartungen seiner Partei nicht erfüllt, die auch seine Erwartungen gewesen seien. "Das tut mir am meisten weh", sagte Rösler zum Abschied.
Der Arzt Rösler konnte der kranken FDP kaum helfen
Zweieinhalb Jahre stand der Mediziner an der FDP-Spitze, fand aber nicht das richtige Rezept, um die seit Langem kränkelnden Liberalen zu heilen. Ihr Leidensweg hatte schon lange vor der Amtszeit Röslers begonnen. Sein Vorgänger als Parteivorsitzender, Guido Westerwelle, verengte die FDP auf eine wirtschaftsliberale Partei. Die große Mehrheit folgte diesem Kurs, weil die Wahlergebnisse stimmten. Dabei vernachlässigten sie einige traditionelle liberale Werte.
Vor allem auf dem Gebiet der Bürger- und Freiheitsrechte blieb die FDP in den vergangenen Jahren auffällig zurückhaltend. Dabei hätte sie von der ausufernden NSA-Ausspäh-Affäre und ständig verschärften Anti-Terror-Gesetzen profitieren müssen. Doch es fehlte ihr der Mut, sich selbstbewusst gegen den Mainstream zu stellen. Vereinzelte warnende Stimmen, wie die der nun ebenfalls abtretenden Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, fanden kaum Widerhall in der FDP.
Neustart in der außerparlamentarischen Opposition
Das soll sich nun - in der außerparlamentarischen Opposition - radikal ändern. Christian Lindner erklärte die "Trauerarbeit" nach dem Bundestagswahl-Desaster für beendet. Trotz eigener Fehler in der Koalition mit den Konservativen blieben die Ziele richtig, betonte er auf dem außerordentlichen Parteitag. Lindner erinnerte in seiner ersten Rede als FDP-Vorsitzender an Errungenschaften, die er auf das Konto der Liberalen verbucht: Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in den 1950er Jahren, eine neue Ost- und moderne Gesellschaftspolitik in den 1970er Jahren, Kampf gegen die Staatsverschuldung seit den 1990er Jahren.
Wie groß der FDP-Anteil an diesen und anderen Entwicklungen in der Vergangenheit auch gewesen sein mag, in den Augen der meisten Wähler spielte er zuletzt keine entscheidende Rolle mehr. Verdienste von gestern sind im Hier und Heute nichts wert. Das weiß auch Christian Lindner, der den verloren gegangenen Stärken der FDP neues Leben einhauchen will. Zugespitzt formuliert: Es geht um die Wiedergeburt des scheintoten Liberalismus.
Das Wahljahr 2014 wird zum ersten Härtetest
Das Fernziel ist die Bundestagswahl 2017, spätestens dann soll es wieder eine FDP-Fraktion im Bundestag geben. Insgeheim hoffen manche Liberale, dass es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Die Hoffnung speist sich aus den zähen Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD. Und noch muss ja die SPD-Basis dem Vertrag zustimmen. Lindner und sein neues Team wollen sich jedoch nicht auf die Schwächen der Konkurrenz konzentrieren, sondern auf die eigenen Stärken. Daran ließ der neue starke Mann der FDP auf dem außerordentlichen Parteitag in Berlin nicht den geringsten Zweifel.
Seine Partei stehe für einen Liberalismus, "der lernfähig ist", sagte ein selbstkritischer Lindner in seiner 75-minütigen Abschlussrede. "Wir definieren uns nicht mehr über die Nähe oder Ferne zu irgendeiner Partei." Die FDP habe Wahlkampf für Bundeskanzlerin Angela Merkel gemacht, "und das war falsch", gab Lindner unumwunden zu. Und er fügte hinzu: "Wir brauchen keine Anderen, wir brauchen keine Leihstimme, wir brauchen Überzeugungstäter." Mit dieser Kampfansage geht die FDP ins Jahr 2014, in dem unter anderem ein neues Europaparlament und drei Landtage gewählt werden. Danach wird man wissen, wie lebendig der parteipolitische Liberalismus in Deutschland noch ist.