Fehlende Aufarbeitung in Indonesien
1. Oktober 2015Gegenüber vom Präsidentenpalast im Zentrum von Indonesiens Hauptstadt Jakarta haben sich etwa 60 Demonstranten versammelt. Ein Mann reiht strahlend weiße Totenköpfe aus Plastik direkt an der Straße auf, während Aktivisten hinter ihm ihre Fäuste in die Luft recken und den Worten aus dem Megaphon lauschen. Seit nunmehr acht Jahren kommen Opfer der Kommunistenverfolgung wie Kusnendar an diesen Ort: "Jeden Donnerstag kämpfen wir hier für Gerechtigkeit und Wahrheit, heute zum 407. Mal. Wir haben nichts falsch gemacht."
Kusnendar ist 84 und verbrachte 14 Jahre seines Lebens auf der Gefängnisinsel Pulau Buru unter menschenunwürdigen Bedingungen. Wie hunderttausend andere politische Gefangene wurde er ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Der Grund: sie waren Mitglied oder Sympathisant der Kommunistischen Partei Indonesiens PKI, die für einen Putschversuch am 1. Oktober 1965 verantwortlich gemacht wurde. Zu Unrecht, denn hinter dem Putschversuch stand nur der PKI-Vorsitzende Aidit mit einem kleinen Team enger Vertrauter.
Bedrohung durch Islamisten
Doch der prowestliche und antikommunistische General Suharto, der Indonesien bis 1998 als Diktator beherrschte, nahm den Putschversuch zum Vorwand, den Kommunismus in Indonesien auszurotten. Ihm wurde die PKI mit ihren mehr als 20 Millionen Mitgliedern zu mächtig. Mindestens 500.000 Menschen wurden systematisch ermordet, etwa eine Million inhaftiert. Nach der Gefangenschaft waren Opfer weiterhin stigmatisiert. So mussten sie bis zum Ende der Suharto-Diktatur 1998 einen Vermerk im Ausweis tragen, der sie als ehemalige politische Gefangene kennzeichnete, unter anderem mit der Folge, dass sie keine Arbeit bekamen.
Die Propaganda des Suharto-Regimes hat auch auf andere Weise ihre Spuren hinterlassen. Noch heute ist die Annahme im Land weit verbreitet, dass Kommunisten Atheisten seien und somit Feinde der Religion. Dabei waren die allermeisten Anhänger oder Mitglieder KPI religiös wie die anderen auch. Erst vor einem Monat musste eine Konferenz von Opferorganisationen in Salatiga abgesagt werden, weil die Organisatoren massive Drohungen der Islamischen Verteidigungsfront FPI erhalten hatten. Dort wurde zum Dschihad und zur Auslöschung der "ungläubigen Kommunisten" in Indonesien aufgerufen. Die Polizei in Salatiga erklärte, die Konferenz nicht sichern zu können und sprach ein Verbot aus.
Täter als Gewinner
Es ist nur ein Beispiel dafür, dass der antikommunistische Einfluss auf staatliche Strukturen der indonesischen Demokratie weiterhin groß ist. Die Regierung hat es bisher nicht geschafft, die Forderungen der Opfer nach Aufarbeitung, Versöhnung und Entschädigung zu erfüllen. Stattdessen besteht Straffreiheit für die Täter von 1965. Adi Zulkadry aus Sumatra hat damals tausende Kommunisten ermordet und fühlt sich heute weiterhin im Recht: "Kriegsverbrechen werden von den Gewinnern definiert", erklärt er im Film "The Act of Killing" von Joshua Oppenheimer, "und ich bin ein Gewinner. Ich brauche mich nicht nach internationalen Definitionen zu richten."
Im Jahr 2012 veröffentlichte die indonesische Menschenrechtskommission zwar einen Bericht, in dem zum ersten Mal von staatlicher Seite anerkannt wurde, dass es im Zuge der Kommunistenverfolgung Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeben hat. Aber der Forderung nach der Einrichtung eines Ad-Hoc-Gerichtshofes für Menschenrechte, um Täter zu verurteilen, kam die Regierung bis heute nicht nach. Der Jurist Nur Kholis, hat den Bericht mit verfasst und ist heute Vorsitzender der Menschenrechtskommission: "Mich zermürbt es, dass ich nicht mehr tun kann, aber in der Regierung gibt es nicht viele Leute, die ein Risiko eingehen wollen. Jemand, der dieses Thema anspricht, würde seine Karriere riskieren", sagte er der DW.
Curriculum ohne Massenmorde
Mehr Mut gezeigt hat Rusdi Mastura. Er ist Bürgermeister von Palu auf Sulawesi und hat sich als bislang einziger Vertreter des Staates in Indonesien im Jahr 2013 öffentlich bei den Opfern von 1965 entschuldigt: "Das war meine Pflicht. Ich bin auch Täter von damals und wir haben große Fehler gemacht. Heute setzen wir uns dafür ein, den Opfern ihre Würde wiederzugeben." Mittlerweile haben die etwa 400 Opfer der Kommunistenverfolgung in Palu verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung und sollen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert werden.
Doch in der Gesellschaft gibt es oft kein Verständnis für die Situation der Opfer von 1965. Denn viele Indonesier haben noch nie etwas von den antikommunistischen Massenmorden gehört. Der Hauptgrund dafür ist, dass dieses Thema in den Schulen nicht unterrichtet wird.
Frau Utati lebt in Jakarta und war elf Jahre lang politische Gefangene, weil sie damals Mitglied der Volksjugend (Pemuda Rakyat) war, die der PKI nahe stand. Sie wurde geschlagen, gedemütigt und sexuell missbraucht. Sie ist jetzt 71 Jahre alt, nach dem Gefängnis arbeitete sie als Babysitterin, war extrem arm und hatte Schulden. Ihre Geschwister wollten sich nicht mehr mit ihr sehen lassen.
Sie blättert in einem Geschichtsbuch für die zwölfte Klasse. Doch sie findet kein Wort über die Opfer der Massenmorde von 1965 oder über politische Gefangene wie sie selbst: "Tja, man sagt doch, dass die Geschichte denen gehört, die an der Macht sind, nicht? Obwohl wir mit der ganzen Sache nichts zu tun hatten, wurden wir da einfach mit reingezogen. Es gibt niemanden, der uns Opfer beachtet. Das bedauern wir sehr, mittlerweile schon seit 50 Jahren."