Filmfestival Thessaloniki - Annäherungen im Kino
12. November 2018Die erste Vorführung von "I Don‘t Care If We Go Down in History as Barbarians" ist ausverkauft. Fast zweieinhalb Stunden verfolgt das Publikum den neuen Film von Radu Jude, in dem eine junge Theaterregisseurin im heutigen Bukarest ein Stück über Rumäniens Mitschuld am Holocaust inszeniert. Dabei stößt sie auf Widerstand. Der Festivalbeitrag ist eine von 23 Produktionen aus dem Balkan, die auf dem diesjährigen Internationalen Filmfestival Thessaloniki gezeigt werden. Für viele im Publikum ist dies vielleicht die erste Begegnung mit dem Balkanland.
Der rumänische Filmemacher Radu Jude thematisiert ein Tabu: Die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der rumänischen Geschichte zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. "Jedes Land hat Themen der Vergangenheit, mit denen es sich nicht auseinandersetzen will. In Rumänien ist das der Antisemitismus. Hier in Griechenland vielleicht der Bürgerkrieg", gibt Jude in der Diskussion nach dem Film zu denken.
Problemstoff Antisemitismus
Doch auch hier in Thessaloniki dürfte der kritische Zuschauer beim Thema Antisemitismus aufhorchen. Über 50.000 Juden deportierten die Nazis von hier in die Konzentrationslager. Erst seit wenigen Jahren befasst man sich mit diesem Teil der Geschichte der Stadt. In seinem Film beleuchtet Radu Jude, wie sich die Auseinandersetzung mit Geschichte auf die kulturelle Identität eines Landes auswirkt.
In einer der letzten Szenen des Films wird das Massaker von Odessa nachgestellt. Die rumänische Armee ermordete hier über 20.000 Juden. Regisseur Jude lässt im Rahmen der fiktiven Inszenierung rumänische Truppen und Hitlers Wehrmacht auftreten. Die Menge jubelt und klatscht begeistert, auch als Soldaten symbolisch ein Haus in Flammen stecken, in dem sich Juden befinden. "Dieser Jubel, diese Begeisterung für Hitler und die Ermordung der Juden, entspricht das der Realität in Rumänien?", will eine Zuschauerin nach dem Film vom Regisseur wissen. "Wir haben die Szene an einem belebten Platz in Bukarest gedreht, ohne die Straßen abzusperren. Da haben sich viele Menschen untergemischt, die keine Schauspieler waren", antwortet Radu Jude.
Kino als Botschafter
Es sind Begegnungen wie diese, die den Balkan-Survey zu einer zentralen Institution des Filmfestivals Thessaloniki machen. Kino als Ort der Begegnung? An den zehn Festivaltagen ist dieser cineastische Traum gelebte Realität. Thessaloniki selbst sei eine Stadt des Balkans, auch wenn man hier viele Vorbehalte gegenüber den Nachbarländern hegt, sagt Dimitris Kerkinos, Leiter des Balkan-Surveys. Mit Beginn dieser Festivalrubrik vor einem Vierteljahrhundert habe man Arbeiten balkanischer Regisseure sichtbar machen wollen - auch, um dem Publikum die Lebenswelt der ex-jugoslawischen Länder näherzubringen.
"Man hat hier in Griechenland viele Vorurteile gegenüber den anderen Staaten des Balkans, auch, weil diese früher kommunistisch waren und Griechenland sich nach dem Zweiten Weltkrieg am Westen orientiert hat", so Kerkinos. Gerade zu Zeiten der Jugoslawienkriege hatte man in Griechenland die Einstellung, weiter entwickelt zu sein, als die anderen Balkanländer. Kerkinos ist sich sicher: Das Festival hat zu einem besseren Verständnis beigetragen. "In den Filmen haben die Menschen festgestellt, dass uns diese Länder viel näher stehen, als der Westen."
Türkei als historisches Bindeglied
Thessaloniki wird auch als Tor des Balkans bezeichnet. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras will die Beziehungen zu den Nachbarn verbessern und die Stadt zum wirtschaftlichen Zentrum des Balkans entwickeln. Dabei ist die Idee als solche nichts Neues. Die nordgriechische Hafenstadt war über Jahrhunderte Dreh- und Angelpunkt der Kulturen zwischen Orient und Okzident.
"Man teilt eine sehr bewegte Geschichte. Die Länder des Balkans sind eine Mischungen verschiedener Nationalitäten und Ethnien, die alle im Osmanischen Reich vereint waren und von einem Tag auf den anderen zu Staaten wurden", sagt Stere Gulea, Urgestein des rumänischen Regiekinos. Man sucht nach einer eigenen Identität, aber man stellt immer fest, wie ähnlich man den anderen ist." Die Region sei wie ein dauerndes Erdbeben und noch auf der Suche nach Stabilität.
Auch deswegen zeige der Balkan-Survey auch türkische Filme, erklärt Dimitris Kerkinos. Viele würden die Türkei nicht dem Balkan zuordnen, doch das spiele keine Rolle. "Es geht uns weniger um Geographie als um kulturelle Identität. Die gemeinsame Geschichte, die Rolle Istanbuls für die Region: Alle Länder hier haben sich filmisch auf die eine oder andere Weise mit der osmanischen Vergangenheit auseinandergesetzt. Das hat einen kulturellen Rahmen geschaffen, in den auch die Türkei gehört."
Geschichten von der anderen Seite
Doch für das Publikum des Balkan-Surveys ist es vor allem die Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die den Reiz des Festivals ausmacht. Wie bei 'Cold November' des kosovarischen Regisseur Ismet Sijarina. Der Film spielt in Pristina in den Jahren 1991 und 92. Serben haben die Stadt in der Hand. Die albanische Bevölkerung wird systematisch unterdrückt. Menschen, die sich offen hinter die Autonomie des Kosovos stellen, verlieren ihre Arbeit. Doch Sijarinas Film ist keine politische Abhandlung, sondern ein soziales Drama. Im Mittelpunkt steht eine Familie und die Zerrissenheit des Vaters zwischen moralischer Integrität und dem blanken Überleben seiner Frau und Kinder.
Im Publikum sitzt auch ein Kosovo-Albaner. Nach der Vorführung meldet er sich zu Wort: "Ich lebe seit sieben Jahren in Thessaloniki. Viele hier wissen nicht einmal, wo das Kosovo überhaupt ist. Es freut mich sehr, dass der Film hier läuft und die Menschen die Geschichte von der anderen Seite sehen" , erklärt er. Auch Produzent und Hauptdarsteller Fatmir Spahiu hofft auf mehr Austausch zwischen den beiden Ländern. "Pristina liegt nur drei Stunden von hier entfernt. Wir kommen häufig nach Thessaloniki zum Einkaufen. Ich lade alle herzlich ein, auch zu uns zu kommen."
Der Balkan-Survey bietet das, was zwischen den Ländern des Balkans oft so schwierig erscheint: Begegnung. Obwohl das Festival Filme aus der ganzen Welt zeigt, liegt seine Stärke in der Regionalität. Viele der gezeigten Arbeiten sind panbalkanische Koproduktionen. Ob Kino allein über die tiefen Gräben zwischen den Völkern des Balkans hinweghelfen kann, ist unwahrscheinlich. Doch zumindest für die Dauer des Festivals scheinen diese Gräben weniger tief.