"Wir wollen ein anderes Leben führen"
2. März 2020"Das Leben ist sehr schwierig in der Türkei. Sobald sie die Tore öffnen, werde ich mich auf den Weg nach Deutschland machen", sagt der 18-jährige Afghane Muhammed. Er wirkt eigentlich noch jünger - ich hätte ihn auf 15 geschätzt. Nur eine kleine Tasche und einen Beutel führt er mit sich. In der Tasche befänden sich drei bis fünf Kleidungsstücke und ein paar Snacks, die ihn auf seiner Reise nach Griechenland satt machen sollen. Er wisse nicht, was ihn erwartet: Wie beschwerlich die Reise wird, wie viele Tage sie dauert und wie er über die Grenze kommt - all das wisse er nicht.
"Wir werden Migranten nicht hindern"
Ich traf Muhammed zufällig auf einem Bürgersteig, im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu. In der Straße, in der ich ihm begegnet bin, halten sich Hunderte von afghanischen und pakistanischen Migranten auf - nur einem einzigen syrischen Flüchtling begegne ich. Muhammed ist vor seiner Abreise noch immer ein wenig zögerlich. Schließlich habe Präsident Recep Tayyip Erdoğan gesagt, dass er Geflüchtete als "Erpressungsmittel" nutzen möchte. Vielen Migranten wie Muhammed ist es nicht entgangen, als es am 27. Februar plötzlich hieß: "Wir werden Migranten nicht daran hindern, die Grenze zu überqueren". Nun hat die Straße Ähnlichkeit mit einem Busbahnhof - "Edirne, Edirne!" brüllen die Fahrer in den Sammeltaxis, Busses und Autos. Edirne im bulgarisch-griechisch-türkischen Dreiländereck ist ungefähr 220 Kilometer von Istanbul entfernt.
Muhammed verhandelt mit einem Fahrer, der für die Fahrt nach Edirne ungefähr 22 Euro pro Person verlangt. Er und die fünf Freunde, mit denen er unterwegs ist, finden den Preis zu hoch.
"Wo ist deine Familie?", frage ich Muhammed. Sie seien in der zentralanatolischen Stadt Niğde. "Sie arbeiten für einen Hungerlohn", antwortet er. Der 18-Jährige, der viele Gelegenheitsjobs macht, sei mit seinem Arbeitsleben nicht besonders zufrieden. "Entweder feuern die Arbeitgeber uns, ohne das Geld auszuzahlen oder sie geben uns weniger Gehalt, als besprochen."
Der junge Mann und seine Freunde einigen sich schließlich mit dem Fahrer. "Ich bekomme 16 Euro pro Mann", erklärt dieser. "Ich werde euch dann in der Nähe der Grenze raus lassen. Wenn uns die Gendarmen erwischen, dann kennen wir uns nicht - sonst bekomme ich noch Schwierigkeiten."
Der Traum von einem Leben in Deutschland
Das Abenteuer von Muhammed und seinen Freunden, die von einem neuen Leben in Deutschland träumen, beginnt in einem deutschen Auto. Ich fahre dem grauen Volkswagen Caddy hinterher.
Nach 50 Kilometern, also einem Fünftel der Strecke nach Edirne, sagt mir Muhammed bei einem unserer letzten Telefonate: "Der Fahrer ist nervös geworden, Bruder. Lass uns in Edirne treffen. Wenn du uns weiter folgst, wird er uns rausschmeißen und unser Geld einbehalten."
Auf der Fahrt sehe ich dutzende Fahrzeuge; vollgepackt mit Migranten - auch viele Kinder und Frauen mit Babys in den Armen. Einige Kilometer vor dem Grenzübergang Pazarkule bei Edirne muss ich einen Kontrollpunkt passieren. Mehr als zehn Gendarmen nähern sich. "Ja bitte?", sagt einer schroff. "Ich bin Journalist", entgegne ich und zeige meinen internationalen Presseausweis. "Ist er inländisch oder ausländisch?", fragt mich der Gendarm. "Inländisch", sage ich und es scheint ihn zufrieden zu stellen. "Durchfahrt gestattet", ruft er.
Zwei Tage Apokalypse
An der Grenze angekommen, stoße ich auf mehr als tausend Migranten. Ich sehe keinen einzigen Polizisten oder Gendarmen. Menschen sitzen wahllos auf dem Boden herum, manche verbrennen Äste, um sich aufzuwärmen. In dem bewaldeten Gebiet steigt Qualm auf, meine Nase brennt. Alles erscheint mir wie eine Szene in einem dystopischen Film.
Manchen der Migranten gelingt es, den Stacheldraht zu überwinden und in den Grenzstreifen zwischen der Türkei und Griechenland vorzudringen. Doch in 100 Metern Entfernung warten bereits griechische Polizisten. Sobald sich die Migranten dem Grenzübergang zu sehr nähern, feuern sie Tränengas ab. Nun vermischt sich der Geruch von verbranntem Holz mit dem Geruch von Gas. Jede abgefeuerte Patrone führt dazu, dass mehr Leute wieder Richtung Türkei fliehen.
So vergehen zwei Tage an der Grenze - mit brennendem Holz, Tränengas, Regen, Kälte, weinenden Babys auf den Schößen ihrer Mütter, flehenden Blicken, Hoffnungslosigkeit, Suche nach neuen Routen, Hunger.
Nachts treffe ich drei Männer zwischen 55 und 60 Jahren. Sie sprechen in Istanbuler Mundart, ihre Kleidung ist noch nicht so matschig. Einer von ihnen fragt mich, wo sie die Grenze aufmachen werden. "Sie werden sie nicht öffnen", antworte ich. Ich möchte wissen, wo sie herkommen. Sie geben mir widersprüchliche Auskünfte. Sie hinterlassen bei mir den Eindruck, dass sie Türken sind, die versuchen, sich unter die Migranten zu mischen. Sie unterhalten sich darüber, ob man die Grenze nicht lieber mit dem Boot überqueren sollte.
"Nur 100 Menschen haben es geschafft"
Am zweiten Tag an der Grenze klingelt mein Telefon in den frühen Morgenstunden. Es ist Muhammed. Sie hätten ein Plastikboot für 800 Lira gekauft, berichtet er. Er und seine Freunde würden auf einen geeigneten Moment warten, um den Grenzfluss Meriç zu überqueren. Er fragt, ob ich hinzustoßen möchte und schickt mir auf dem Mobiltelefon seinen Standort. Als ich dort ankomme, sehe ich, wie die Gruppe sich am Rand eines weiträumigen Waldstückes verschanzt hat. In 40 bis 50 Metern Entfernung befindet sich am gegenüberliegenden Ufer die griechische Polizei - wachsam und präsent.
Muhammed verzehrt einen Sesamkringel und zündet sich dann eine Zigarette an. Als ich ein Foto von ihm machen möchte, reagiert er ungehalten: "Was machst du Bruder, filme mich nicht. Wenn meine Mutter mich hier sieht, wird sie sehr traurig sein. Außerdem weiß sie nicht, dass ich rauche." Auf der einen Seite des Ufers spielen Kinder vor den Schlauchbooten, die im Sand liegen. Auf der anderen Seite des Ufers warten griechische Polizisten, bewaffnet mit Gewehren.
Inzwischen versuchen die Teenager eine geeignete Route auf dem Handy zu finden, um den Fluss zu überqueren. Muhammed erzählt den anderen Afghanen, dass die Zahl der Menschen, die es geschafft haben, den Fluss zu überqueren, bei 100 liege. Die Zahl der Menschen, die nach der Überquerung gefangen und zurückgeschickt wurden, sei weitaus höher.
Ein Grenzübergang wie ein Kriegsschauplatz
Ich begebe mich schließlich zurück zum Pazarkule-Grenztor und sehe, dass die Zahl der wartenden Migranten nun bei ungefähr 3000 liegt. Am Grenzübergang halten sich Menschen unterschiedlichster Nationalitäten auf - Afrikaner, Iraner, Pakistaner und Palästinenser; die meisten sind jedoch Afghanen. Die Zahl der syrischen Einwanderer ist verschwindend gering. Die Spannungen mit der griechischen Polizei haben nun deutlich zugenommen.
Je mehr Menschen auf den Grenzübergang hin drängen, desto mehr Tränengas wird in die Menge gefeuert. Direkt vor meinen Füßen werden fünf Menschen schwer verletzt. Einer von ihnen ist noch ein Kind. Die Migranten reagieren mit Gewalt, einige schmeißen Steine auf die griechischen Polizisten. Das Grenzgebiet ähnelt immer mehr einem Kriegsschauplatz.
Mitten im Chaos sticht mir ein großgewachsener, junger Mann ins Auge, der fließend türkisch, englisch und persisch beherrscht. Er reckt die Hände hoch und ruft in drei Sprachen: "Wir haben den Krieg satt. Werft keine Steine, setzt euch. Wir wollen ein anderes Leben führen."