Stadtretter Flüchtlinge
25. Dezember 2014Andor Karapetyan kennt das Hotel wie seine Westentasche. Seit Jahren arbeitet der Armenier in der "Harzlodge" als Hausmeister, seine Frau ist hier Zimmermädchen. Die kleinen Häuschen liegen etwas außerhalb von Goslar am Nordrand des Harzes. Karapetyan kennt das Gelände so gut, weil er hier lange als Flüchtling gelebt hat. Zum Einkaufen musste seine Familie damals zu Fuß in die Stadt. Integriert fühlte sich damals niemand, erzählt der 45-Jährige. "Der Weg war weit, Arbeit gab es für uns auch nicht." Die Stadt nutzte die Häuser als Asylunterkunft, vor sechs Jahren wurde das Heim geschlossen und zum Hotel umgebaut.
Zuzug birgt Potenzial
Heute leben Goslars Asylsuchende und Flüchtlinge fast alle in eigenen Wohnungen. Das sei kein großes Problem, erzählt Uta Liebau, denn leere Wohnungen gebe es genügend. Vom Vorschlag ihres Bürgermeisters, Flüchtlinge aus umliegenden Großstädten in Goslar unterzubringen, war Liebau sofort begeistert. "Endlich ein Politiker, der das sagt, was wir hier empfinden und brauchen." Der Gedanke sei vernünftig, wenn "Städte wie Göttingen oder Braunschweig neue Containersiedlungen für Flüchtlinge bauen, während wir hier ganze Häuserblöcke abreißen", meint sie. Goslar brauche diese Leute, allein schon wegen der Arbeit.
Tatsächlich verliert Goslar pro Jahr 1500 bis 2000 Einwohner. Heute leben hier noch knapp 42.000 Menschen, nach der Wende waren es noch knapp 60.000. Auch die deutsche Wirtschaft spricht vom Fachkräftemangel, neben fähigen Handwerkern fehlt es vielen Berufszweigen an Nachwuchs. "Warum wir das in Deutschland nicht stärker nutzen, ist mir ein Rätsel", sagt Uta Liebau.
"Das Zeichen zählt"
Sie kümmert sich seit über 20 Jahren um Flüchtlinge. Die 60-Jährige tut das ehrenamtlich im Verein "Leben in der Fremde". Hier versorgen sie Flüchtlinge mit dem Nötigsten, begleiten sie zu Behörden, vermitteln bei der Suche nach einer Schule für die Kinder. Manchmal, wenn die Wohnungssuche für Neuankömmlinge nicht schnell genug geht, nimmt Uta Liebau sie bei sich zu Hause auf. Dass die Idee des Bürgermeisters nicht ganz zu Ende gedacht ist, stört sie nicht. "Das Zeichen zählt! Die, die da kommen, sind junge Menschen mit Potential."
Das sieht auch der Goslaer Bürgermeister Oliver Junk so. Er hat turbulente Tage hinter sich, mit ruhiger Stimme berichtet er von unterschiedlichen Reaktionen auf seine Idee. "Das reichte von langen, handschriftlichen Briefen mit konkreten Angeboten bis hin zu: Sie sind nicht mehr unser Bürgermeister, hauen sie ab!" Ganz klar, so der 38-Jährige, sein Vorschlag habe einige Reaktionen von Rechtsgesinnten nach oben gespült. Was überwiegt, seien allerdings die konstruktiven Beiträge. Dafür habe es sich gelohnt, die nicht einfache Debatte anzustoßen. "Es wird darüber diskutiert, das ist gut", meint Junk. Ein klares Konzept hat der Bürgermeister aber bislang nicht.
Viele Argumente, viele Probleme
Auch Susanne Ohse engagiert sich im Verein "Leben in der Fremde". Sie fragt sich, wie Junk das umsetzen will. Zum einen ist für die Unterbringung von Flüchtlingen der Landkreis zuständig. Zudem gibt es in Deutschland konkrete Verteilungsschlüssel, nach denen Flüchtlinge den Kommunen zugeteilt werden. Aber Ohse sieht auch noch ein ganz anderes Problem. "Die Ehrenamtlichen in Goslar sind schon jetzt ausgelastet, mehr geht kaum noch", so Ohse. Wenn mehr Flüchtlinge kämen, brauche es professionelle Unterstützung, bezahlte Sozialarbeiter, die Strukturen müssten sich ändern. All das fehle bislang. Einige Pensionen und Hotels stünden tatsächlich leer, aber eher in umliegenden Ortschaften. Würden diese dafür genutzt, wären die Bewohner wieder abgeschottet. Das wollen Liebau und Ohse nicht. "Eine funktionierende Infrastruktur für noch mehr Flüchtlinge gibt es momentan nicht."
Zu kurz gedacht?
Auch beim zuständigen Landkreis Goslar war man überrascht von Junks Vorschlag. Absprachen gab es im Vorfeld nicht, sagt Sprecher Dirk Lienkamp, "es klang wie eine unausgereifte Idee". Mittlerweile habe man sich zusammengesetzt, sogar mit dem niedersächsischen Innenminister. Tenor: Einfach nur die Zahl der Flüchtlinge erhöhen und sie in leere Wohnungen stecken, ist zu kurz gedacht. "Das kann nur funktionieren, wenn ein nachhaltiges Integrationskonzept dahinter steht", so Lienkamp. Laut seinen Zahlen bleiben nur etwa vier Prozent der Flüchtlinge langfristig in Goslar.
So bekämpfe man den demografischen Wandel mit Sicherheit nicht, meint er. "Wir müssen uns fragen, welche Strukturen es braucht, damit die Menschen hier bleiben und dauerhaft integriert werden." Sammelunterkünfte seien der falsche Weg, so der Sprecher. "Es gibt Leerstände, aber wir müssen auch schauen, dass wir Menschen nicht auf einem Punkt konzentrieren und so soziale Brennpunkte entstehen." Das Gesamtpaket müsse stimmen, dann wäre damit eine Chance verbunden. Doch Deutschkurse, Kinderbetreuung, Schul- und Berufsausbildung - all das koste Geld. Und das ist auch am nördlichen Rand des Harzes knapp. "Wir sind erst am Beginn dieser Integrationsbegleitung, damit diese Menschen dauerhaft bei uns bleiben können", erklärt Dirk Lienkamp. "Die Strukturen haben wir noch nicht."
Goslar, Innenstadt. Die Meinungen auf der Straße zur Idee des Bürgermeisters gehen auseinander. Skeptisch sind die einen, ablehnend die anderen. Man könne nicht einfach "alle möglichen Flüchtlinge aufnehmen", das werde zu teuer und gehe "an der Struktur der Orte vorbei". Wenige sagen, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient habe, auch die Flüchtlinge.
Goslar als Modell für andere
Oliver Junk lässt die Bedenken nicht gelten. "Bei 300 Flüchtlingen, die hier in den letzten Monaten angekommen sind im gesamten Landkreis, kann mir keiner ernsthaft von einer Überforderung sprechen", so der Bürgermeister. Bereits in 2015 könnte sich diese Zahl verdoppeln, rein nach dem Verteilungsschlüssel, weil noch mehr Flüchtlinge insgesamt nach Deutschland kommen. Nach Junks Vorstellung verkraftet Goslar noch mehr.
Natürlich wisse auch er, dass nur ein Dach über dem Kopf nicht ausreiche. Junk spricht ebenfalls von aktiver Integration, von Sprachkursen und nötigen Sozialarbeitern. Es sei nicht so, dass die Kommunen dafür kein Geld hätten. Wenn allerdings Flüchtlinge aus anderen Kommunen übernommen würden, müssten sich Städte wie Göttingen oder Braunschweig an den Kosten beteiligen. "Vielleicht können wir hier ein Goslaer Modell entwickeln, das auch anderen Kommunen in Deutschland hilft", so Junk.
Er will auf jeden Fall an seiner Idee festhalten, weiter diskutieren. Ohne es zu wissen, springt Andor Karapetyan seinem Bürgermeister zur Seite. Klar brauche die Stadt mehr junge Leute, viel zu viele seien schon weg, so der Hausmeister. "Und alle sagen, hier gibt es nichts zu tun, aber das stimmt nicht. Es gibt noch viel Arbeit in Goslar!" Wer möchte ihm da wohl widersprechen.