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Flüchtlingstragödie überschattet Balkantreffen

Bernd Riegert, z.Z. Wien 27. August 2015

Auf der Westbalkan-Konferenz in Wien lobt Bundeskanzlerin Angela Merkel Fortschritte, während Serbien unzufrieden ist. Die Migrationsfrage ist das alles bestimmende Thema. Bernd Riegert aus Wien.

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Bundeskanzlerin Merkel und Österreichs Kanzler Faymann auf der Westbalkankonferenz in Wien
Bild: Reuters/L. Niesner

Mit einer Schweigeminute begann der Bundespräsident von Österreich, Heinz Fischer, das gemeinsame Mittagessen von Regierungschefs, Außen- und Wirtschaftsministern aus zehn Balkan- und EU-Staaten in Wien. Die zweite Westbalkan-Konferenz sollte eigentlich eine positive Bilanz der Initiativen ziehen, die vor einem Jahr beim ersten Treffen in Berlin angestoßen worden waren, um die Region wirtschaftlich zu beleben und Reformen zu fördern. Doch die Nachricht vom tragischen Tod von Migranten in einem Schlepper-LKW an einer österreichischen Autobahn machte dem Gastgeber einen Strich durch die Rechnung.

Am Vormittag hatte die Polizei einen Lastwagen mit mehr als 70 Leichen entdeckt, die bereits verwesten. Vom Fahrer und den mutmaßlichen Schleppern fehlt jede Spur. Das Thema Migration und Flüchtlinge rückte damit vollends in den Mittelpunkt der Westbalkan-Konferenz, an "diesem schwarzen Tag für Österreich", sagte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.

Entsetzen über tote Flüchtlinge an der Autobahn

"Wir sind alle erschüttert von dem entsetzlichen Geschehen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die als einzige Regierungschefin eines großen EU-Landes an dem Westbalkan-Treffen teilnahm. Italien und Frankreich hatten nur Minister beziehungsweise Botschafter geschickt. Merkel und der österreichische Bundeskanzler Werner Feymann forderten mehr Solidarität innerhalb der Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage. Zurzeit nehmen nur fünf Staaten der EU rund 90 Prozent aller Asylbewerber auf, darunter Deutschland und Österreich. Die Bundeskanzlerin sprach sich erneut für eine Aufteilung der Flüchtlinge nach einem Quotensystem aus, was von der Mehrheit der EU-Staaten aber abgelehnt wird.

Merkel will jetzt die entsprechenden Vorschläge der EU-Kommission unterstützen, kündigte sie in Wien erneut an. "Wir brauchen jetzt eine Lösung", sagte Bundeskanzler Feyman. Der Tod der Migranten im LKW führe die Dringlichkeit noch einmal vor Augen. "Die Schlepper dürfen nicht stärker sein als wir", erklärte Feyman mit Blick auf die Tatsache, dass die Schlepperorganisationen die Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen innerhalb großer Teile der EU offenbar ausnutzten. Erst vor drei Tagen waren mehr als 30 Flüchtlinge in Österreich aus einem LKW befreit worden. Vor 14 Tagen fand man über 80 ausgemergelte Flüchtlinge in einem LKW-Container.

In einem LKW in Österreich wurden tote Flüchtlinge gefunden (Foto: epa)
In einem Lastwagen in Österreich wurden Leichen von Flüchtlingen gefundenBild: picture-alliance/dpa/H. Punz

Balkanstaaten: EU exportiert ihre Migrationsprobleme

Den Staaten, die auf der sogenannten Balkanroute der Flüchtlinge liegen, sagten die Vertreter der EU mehr finanzielle Hilfen zu. Der serbische Finanzminister Dusan Vujovic sagte der Deutschen Welle in Wien, er fordere den vollständigen Ersatz der Kosten und nicht nur ein paar Millionen Euro, die die EU bisher für den Unterhalt der Flüchtlinge zugesagt hat. Jeden Tag kämen rund 2000 Flüchtlinge über die Grenze aus Griechenland nach Mazedonien, berichtete die mazedonische Delegation. Der mazedonische Außenminister Nikola Poposki kritisierte, dass die EU ihr Flüchtlingsproblem in die noch nicht zur EU gehörenden Balkanstaaten exportierte. Schließlich sei Griechenland Mitglied der Union und müsse sich eigentlich um die Flüchtlinge kümmern, anstatt sie einfach weiterzureichen.

Nicht nur aus Griechenland, auch aus Italien reisen viele Flüchtlinge ungehindert und unregistriert nach Norden weiter. "Das Dublin-System funktioniert nicht mehr", mahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Wien. Es müsse durch eine neue faire Lastenverteilung ersetzt werden. Nach der 25 Jahre alten "Dublin-Regel" ist das Land der ersten Einreise für die Unterbringung und das Verfahren von Asylsuchenden zuständig.

"Sichere Herkunftsländer"

Übereinstimmung gab es bei den Teilnehmern des Westbalkan-Treffens bei einer zweiten Migrationsfrage: Alle Länder des westlichen Balkan, also Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Albanien, seien "sichere Herkunftsländer" im Sinne des Asylrechts. "Von diesen Staaten, die alle in die EU streben, kann man erwarten, dass sie Menschenrechtsstandards einhalten und es keine politische Verfolgung gibt", sagte Bundeskanzlerin Merkel. Asylbewerber aus den Balkanstaaten, deren Anteil in Deutschland bei etwa 40 Prozent liegt, hätten kaum eine Chance auf Anerkennung, "auch wenn das im Einzelfall hart sein mag".

"Wie ungezogene Kinder"

Trotz der neuen "Dynamik der Kooperation", die Angela Merkel auf dem Westbalkan zu erkennen glaubt, kritisierte der serbische Außenminister Ivica Dacic die ganze Veranstaltung. "Einmal im Jahr, wenn die EU hinschaut, benehmen wir uns gut. Wenn die EU dann wieder weg ist, verhalten wir uns wie ungezogene Kinder", sagte Dacic vor Journalisten. Die Staaten der Region seien immer noch zu sehr auf die Vergangenheit fixiert, anstatt sich um zukunftsträchtige Projekte zu kümmern. Von der EU höre er immer Belehrungen in Sachen Asylverfahren und Flüchtlinge, sagte der serbische Außenminister. "Dabei hat die EU offenbar selbst kein Konzept für das Migrations- und Flüchtlingsproblem." Man müsse und dürfe das mal so offen ansprechen, weil man ja schließlich unter Freunden sei, schob er nach. Serbien hofft darauf, im kommenden Jahr Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen zu können. Der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn machte den Serben Mut, als er sagte, er sehe nach der jüngsten Verständigung zwischen Serbien und Kosovo keine Hinderungsgründe mehr. Die Unabhängigkeit des Kosovo wird von Serbien und vier EU-Staaten nicht anerkannt.

Anreize zum Bleiben gefragt

Einig waren sich die Teilnehmer der Westbalkan-Konferenz, dass die Region vor Beitritten zur EU wirtschaftliche Impulse braucht. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier rief die Staaten dazu auf, mehr Anreize für junge Leute zu schaffen, im Land zu bleiben, statt auszuwandern. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in einigen Teilen der Region bei 50 Prozent. Frank-Walter Steinmeier gab sich während der Konferenz, als es um Asylfragen ging, sehr nachdenklich: "Auf dem Weg vom Flughafen Wien in die Stadt haben wir Flüchtlinge gesehen, die entlang der Autobahn zogen, nachdem sie offenbar von Schleppern ausgesetzt wurden." Das zeige, so Steinmeier, wie groß das Problem inzwischen sei.

Die Balkan-Konferenz brachte viele Absichtserklärungen, aber wenig konkrete Ergebnisse. Am greifbarsten war noch das 4:2 beim Fußballspiel am Vorabend. Da waren in einem Wiener Stadion die Mannschaft der alten EU und der zukünftigen EU-Mitglieder gegeneinander angetreten. Zahlreiche Regierungschefs und Minister spielten mit. Die Balkanstaaten gewannen. Die dritte Westbalkan-Konferenz ist im kommenden Jahr in Frankreich geplant.