Flaschenpost aus dem geteilten Deutschland
29. Mai 2010Anna Seghers, am 19. 11. 1900 in Mainz geboren, deren Dialektfärbung ihr Leben lang die rheinhessische Herkunft verriet, kehrte 1947 nach vierzehn Jahren Exil in Frankreich und Mexiko nach Deutschland zurück. Für ihren schon damals weltberühmten Roman Das siebte Kreuz, der von der gelungenen Flucht eines Häftlings aus einem deutschen Konzentrationslager erzählt, erhielt sie im selben Jahr den Darmstädter Georg-Büchner-Preis. Beendet im von den Nazis besetzten Frankreich erschien der Roman 1942 in Mexiko und in den USA. Er wurde dort ein Bestseller und sein Stoff als Comic strip und 1944 als Film populär.
Eine weltberühmte Erzählerin in der DDR
Als amerikanische Armeeausgabe für die deutschjüdischen Emigranten unter den Soldaten kam Das siebte Kreuz nach Deutschland. Wie alle im Exil geschriebenen und veröffentlichten Seghers-Romane war auch dieser "Heimatroman aus Deutschland" (F. Benseler) in fast alle Sprachen übersetzt, ehe er seine Leserinnen und Leser in Deutschland erreichte. In der DDR, wo Seghers bis zu ihrem Tod 1983 lebte und wichtige Funktionen innehatte (z.B. als Vorsitzende des Schriftstellerverbandes 1952-1978), und in den sozialistischen Ländern (sie war z.B. viele Jahre lang Mitglied des Weltfriedensrates) war sie als Erzählerin vielgelesen und wurde als Mensch wertgeschätzt wegen ihrer geradlinigen, zuverlässigen und hilfsbereiten Art. Ihre Briefe belegen, wie sehr das zutrifft.
"… seit ich lebe, habe ich nie eine leichte Zeit erlebt"
So schreibt sie 1966 an den mit seiner Familie in Paris lebenden Sohn Pierre. Diese unverstellte Offenheit, was ihre Gefühle betrifft, findet man nicht nur in den Familienbriefen, sondern auch in vielen Briefen an Freunde außerhalb der DDR. Aber die Kommunistin und Exilantin Seghers hat genug erlebt, um vorsichtig zu sein mit politischen Äußerungen. Der Tod Stalins löst bei ihr, wie auch bei anderen Zeitgenossen, Trauer und Erschütterung aus. Aber die Enthüllungen Chruschtschows über die stalinistischen Verbrechen 1956, die antisowjetischen Bewegungen in den Ostblockstaaten und die antisemitischen Schauprozesse dort und schließlich der Bau der Mauer 1961 – zu all diesen Ereignissen finden sich in den Briefen keine direkten Kommentare.
Seghers schreibt jedoch von ihren Gefühlen der Kälte, der Trauer und Freudlosigkeit, ja der "solitude énorme", der großen Einsamkeit (1973 an den brasilianischen Freund Jorge Amado) und gibt so ihrer tiefen Desillusionierung über den erstarrten Sozialismus Ausdruck, wohl wissend, dass die Gefährten der Exiljahre auch zwischen den Zeilen zu lesen verstehen.
Seghers sehnte sich nach Freundschaft und Freude, und diese Sehnsucht zog sie über die engen Grenzen der DDR hinaus – in Briefen, auf Reisen, zu den Kindern nach Frankreich, zu den Freunden nach Brasilien, in die Sowjetunion, nach Ungarn, Schweden oder in ihre Ursprungsheimat Rheinhessen. Je älter sie wurde, umso wichtiger wurden ihr die Gefährten ihrer Jugend und des Exils.
"Man soll Menschen, die einem vernünftige Fragen stellen, auch vernünftig antworten."
Seghers‘ Briefe sind aber nicht nur Lebens-, sondern auch Zeitdokumente. Sie erhielt sehr viele Briefe von Leserinnen und Lesern – nicht nur aus der DDR – und nahm deren persönliche Beantwortung ernst als "großen Teil meiner Arbeit". So erfuhr sie von den Sorgen und Nöten, den Träumen und Fragen von Schulklassen, Studierenden und WissenschaftlerInnen, Arbeitenden und KünstlerkollegInnen, sie sorgte für unbürokratische Hilfen und gab Auskünfte über die Entstehung ihrer Werke oder ihr Leben in der Emigration. Umgekehrt interessierte Seghers sich bis ins Detail für die Lebens- und Arbeitsverhältnisse vor allem von Arbeitenden in den Betrieben und der Landwirtschaft. Diese Anschauung brauchte sie für ihre Arbeit, sie war buchstäblich süchtig nach Wirklichkeit, um sie in Literatur zu verwandeln.
Gratulation für Heinrich Böll
Seghers schrieb immer wieder – wie es scheint: spontane – Briefe an KollegInnen, deren Bücher ihr gefielen, aber sie hielt auch mit Kritik und Fragen nicht hinterm Berg. Nach Westdeutschland, so zeigen die Briefe, gab es kaum Kontakte, außer zu Heinrich Böll. Er erwarb sich Seghers' Respekt nicht nur durch den Humanismus seiner Prosa, sondern auch durch sein Eintreten für das vietnamesiche Volk. 1973 schreibt sie ihm: "Sie haben sich kraftvoll für Vietnam eingesetzt, was andere Preisträger des vergangenen Jahres nicht taten. Nicht nur Ihr Werk und die Anerkennung, die Sie dafür erhielten, Ihr menschliches Handeln erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit." Diese Einheit von Lebenshaltung und Werksubstanz zeichnet auch Seghers aus; auch das zeigen ihre Briefe.
Dokumente der Lebens- und der Zeitgeschichte
Was diesen Briefband zu einem besonderen Ereignis macht, ist nicht nur, dass er bisher unbekannte Facetten der Frau und Zeitgenossin Seghers erhellt, sondern – und dies ist das Verdienst der Herausgeberinnen Almut Giesecke und Christiane Zehl Romero – dass er durch genaue, sorgfältige Kommentierungen, ein ausführliches Personenregister und das Nachwort den zeitgeschichtlichen Kontext gibt, ohne den Seghers in ihrer Zeit nicht zu verstehen wäre, vor allem nicht für LeserInnen jüngerer Generationen.
Autorin: Sonja Hilzinger
Redaktion: Gabriela Schaaf
Anna Seghers: Briefe 1953-1983. Tage wie Staubsand. Herausgegeben von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke. Berlin: Aufbau Verlag (= Werkausgabe Briefe V/2), 645 Seiten, 42 Euro
Sonja Hilzinger, Autorin, Lektorin und Wissenschaftsberaterin lebt in Berlin. Veröffentlichungen zu Autorinnen, zur Exil- und DDR-Literatur, u.a. Biografien von Anna Seghers, Elisabeth Langgässer, Inge Müller, Christa Wolf.