Flucht aus der Schmuddelecke
22. September 2012Im Alter von zehn oder elf Jahren dachte Werner Pohlenz, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er las in der Jugendzeitschrift "Bravo" über eine Phase, die vorüber gehen kann, aber bei ihm lange nicht vorüber gehen wollte. Er verliebte sich in Schulfreunde, gestehen wollte er sich das nicht. Das Versteckspiel zerrte an seinen Nerven, seine Schulnoten stürzten ab, er isolierte sich. "Ich lebe seit meinem 17. Lebensjahr offen schwul", sagt Nachrichtensprecher Pohlenz heute, gesteht aber auch: "Ein Besuch beim Fußball war für mich undenkbar." Er schaute Spiele im Fernsehen, selbst kicken wollte er nicht, das männliche Gehabe, die raue Seite des Sports, das war ihm zuwider.
Es waren die Hertha-Junxx, die Werner Pohlenz umgestimmt haben, der erste schwul-lesbische Fanklub Deutschlands. Entsprungen war die Idee für die Gründung 2001, nach Annäherungsversuchen in Internetforen und im schwul-lesbischen Stadtmagazin Siegessäule. Hertha BSC sagte seine Unterstützung zu, stellte den Klub in seinem Magazin vor, die Mitgliederzahl wuchs. "Wir holen das Thema aus der Schmuddelecke", sagt Werner Pohlenz, "und wir zeigen, dass das Leben von Homosexuellen normal sein kann wie das von Heterosexuellen. Diese Akzeptanzarbeit ist uns wichtig." Pohlenz genießt die Zeit bei den Hertha-Junxx, er ist gern mit Leuten zusammen, die ähnlich denken, fühlen, sozialisiert sind, und die gemeinsam mit ihm über Figuren und Frisuren neuer Spieler diskutieren.
Geheimnisvolle Fahndung
Gerade hat das Thema Homosexualität und Fußball wieder Konjunktur, ausgelöst durch ein Interview des Jugendmagazins "Fluter" der Bundeszentrale für politische Bildung. Darin schildert ein schwuler Fußballprofi anonym sein Versteckspiel in der Bundesliga. "Ich weiß nicht, ob ich den ständigen Druck zwischen dem heterosexuellen Vorzeigespieler und der möglichen Entdeckung noch bis zum Ende meiner Karriere aushalten kann", sagt er und bestätigt alte Spekulationen zum Thema: Ja, er nehme öffentliche Anlässe in weiblicher Begleitung wahr. Ja, er kenne andere schwule Bundesligakicker. Und ja, er hoffe mit seinen Aussagen eine Lawine der Outings loszutreten.
"Das Ganze ist spannend zu lesen, aber es macht nicht schlauer", sagt Dirk Brüllau, Sprecher der Queer Football Fanclubs QFF, der schwul-lesbischen Fanklubs in Europa, zu denen auch die Hertha-Junxx gehören. "Die Aussagen sind plakativ und getragen durch Allgemeinplätze, die niemanden überraschen." Der Hamburger Brüllau hat beobachtet, wer genau auf das Interview reagiert hat. Die Bild-Zeitung illustrierte auf ihrer Internetseite die vermeintlich spektakulärsten Aussagen mit einem Schattenriss. In den Stunden danach griffen Blogs, Radiosender, Zeitungsredaktionen das Interview auf. Wieder dominiert die geheimnisumwitterte Fahndung nach schwulen Kickern. Die Fanklubs, die offen und nicht anonym Stellung beziehen könnten, werden dagegen selten von Journalisten befragt.
Pilgerstätte und politisches Forum
Gerd Eiserbeck findet das schade. Lange hatte er als Jugendlicher mit seiner Unsicherheit gerungen, er ließ sich treiben in der Welt der Machos. Auf dem Fußballplatz grätschte und brüllte er, damit niemand Verdacht schöpfen konnte, dass er auf Männer steht. Er hatte es mit Frauen probiert, bis er sich zu seiner Homosexualität bekannte. Eiserbeck ist Polizist, im Dienst war er gegen seinen Willen geoutet worden. Sein Chef sagte, wer mit Schwulen ein Problem habe, solle die Klappe halten. Eiserbeck gewann auch durch seine Fußballfreunde Selbstbewusstsein. Im Olympiastadion rollt er vor jedem Heimspiel ein zwölf Meter langes Banner aus, darauf die Regenbogenfarben, das Vereinswappen und der Spruch: "Fußball ist alles – auch schwul!"
Werner Pohlenz und Gerd Eiserbeck nutzen die Hertha-Junxx als Treffpunkt, Pilgerstätte und politisches Forum. Inzwischen ist aus dem Fanklub ein eingetragener Verein geworden, der sich etabliert hat. Politiker schauen vorbei, um neue Wählergruppen zu erschließen, Claudia Roth von den Grünen wurde Ehrenmitglied. "Hertha hatte durch seine Fans lange keinen guten Ruf", sagt Eiserbeck. "Und da kann sich der Verein mit einem schwul-lesbischen Fanklub nach außen als tolerant präsentieren."
Rückzugsräume ohne Krampf
Die Hertha-Junxx besuchen Straßenfeste, sind auf Podiumsdiskussionen zu Gast, werben für Toleranz. Einmal erschien der ehemalige Hertha-Abwehrspieler Malik Fathi auf der Weihnachtsfeier, er brachte Zeit mit, war freundlich, unterschrieb Autogramme. Und vergaß nicht zu betonen, dass er hetero sei. Hundertprozentig, ganz sicher, ohne Zweifel.
Das Modell der Hertha-Junxx hat Schule gemacht. Nach ihnen haben sich mehr als 20 schwul-lesbische Fanklubs gegründet, Queerpass in St. Pauli, die Rainbow-Borussen in Dortmund oder Andersrum Rut-Wiess in Köln. Oft hört Werner Pohlenz, sie würden sich abschotten. Warum müsse es schwul-lesbische Fanklubs überhaupt geben? "Hin und wieder sind Rückzugsräume für die Community wichtig, wo man ungestört ist und unverkrampft über die eigenen Witze lachen kann."
In vielen anderen Vereinen stehen Funktionäre solchen Initiativen skeptisch gegenüber, in Teilen Osteuropas sind sie undenkbar. Auch in Deutschland kommt kein Verein über einen schwul-lesbischen Fanklub hinaus, in den neuen Bundesländern gibt es keinen einzigen. Gerd Eiserbeck berichtet von einem Fußballturnier: "Da mussten wir uns anhören, dass Schwule nicht kicken können." 100 Teams spielten mit, die Hertha Junxx landeten ziemlich weit vorn.