Nach der Erleichterung kommt der Frust
29. November 2015Äthiopiens größte Flüchtlingscamps May Aini, Adi Harush und Hitsats liegen im Nordwesten des Landes, nah an den Grenzen zu Eritrea und zum Sudan. Manche Flüchtlinge schaffen es von dort weiter in die Hauptstadt im Zentrum des Landes. Wir haben mit fünf Menschen gesprochen, die nach Addis Abeba gekommen sind - und sich trotzdem noch nicht angekommen fühlen.
"Ich wollte meine Familie nachholen"
"Ich finde keine Worte, um meine Erleichterung auszudrücken." James sitzt gedankenverloren im Notfallbüro des Jesuitischen Flüchtlingsdienstes, der in Addis Abeba Geflüchtete betreut und ihnen Unterstützung, Bildungsmöglichkeiten, aber auch Freizeitangebote zur Verfügung stellt. James kommt aus dem Südsudan, eine große Gestalt mit Schmucknarben auf der Stirn. Er atmet langsam aus, als er sich an das erinnert, was er und seine Familie durchgemacht haben. Neben ihm sitzt seine Frau mit ernstem Gesichtsausdruck. In seiner Hand faltet er ein Foto. Es zeigt seine Familie. "Ich hatte sie über ein Jahr nicht gesehen. Ich dachte, sie wären getötet worden." James und seine Familie waren auf der Flucht getrennt worden: Er konnte nach Äthiopien fliehen, während seine Verwandten es nach Kenia schafften. Dort konnte er sie wiedertreffen. "Ich habe sie dann hier nach Äthiopien geholt. Jetzt bemühe ich mich, sie hier anzumelden."
"Leben ohne arbeiten zu dürfen, ist wie psychologischer Mord"
"Die Regierung denkt nur an ihren Haushalt, denen geht es nur ums Geld und nicht um die Flüchtlinge", klagt ein 33-jähriger Kongolese im Camp. Er floh vor fünf Jahren nach Äthiopien. Er gehört zur Minderheit der Banyamulenge, einer Volksgruppe im Südkivu, die in der Vergangenheit immer wieder verfolgt wurden. "Hier Leben ist wie psychologischer Mord, denn wir dürfen nicht arbeiten. Es ist hoffnungslos."
"Die Musik gibt mir Hoffnung"
Als Guilain sein Land Guinea verließ, war er Anfang 20. Er kommt aus Guinea-Conakry und lebt seit nunmehr elf Jahren in Äthiopien. Seine Leidenschaft ist die Musik: Er hat eine 11-köpfige Band gegründet, mit der er im Musikzimmer des Flüchtlingsdienstes probt. "Ich bin glücklich, wenn ich hierher komme. Die Musik gibt mir Hoffnung und man sieht, dass die Menschen einfach eine gute Zeit haben." Die Musik helfe ihm auch zu vergessen: Vor zwei Jahren konnten seine Frau und seine Tochter in die USA einzureisen. Er möchte ihnen bald folgen. "Ich muss mein Herz zusammenhalten, deshalb kann ich nicht so viel darüber nachdenken."
"Alles hier drängt einen, wegzugehen"
"Für die Jungen hier gibt es keine Möglichkeit sich etwas aufzubauen, man kann nichts tun für seine Familie", erzählt Shewit. Der 31-Jährige verließ Eritrea 2011. Eritrea gilt als eines der repressivsten Länder der Welt. Willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Die Regierung in Asmara hat ein umfassendes Spionagenetzwerk gegen die eigene Bevölkerung installiert. Auch wenn Shewit keine Sympathie für diese Spione hegt, sieht er die Sache nüchtern: "Es geht da ums Überleben und darum, seine Familie zu ernähren. Die Situation zwingt sie dazu, zu spionieren." Er selbst hielt es in Eritrea nicht mehr aus und haute ab. Auch andere Angehörige von ihm haben es versucht - wie seine 20-jährige Nichte. Sie starb in Libyen auf ihrer Flucht. Wie genau sie ums Leben kam, weiß er nicht. Ob er selbst schon mal versucht habe, sich auf die Flucht nach Europa zu machen? "Natürlich habe ich darüber nachgedacht", sagt Shewit. "Ich bin jetzt seit vier Jahren hier. Welche Zukunft habe ich, wenn ich hierbleibe?"
"Wenigstens kann ich hier meine Religion ausüben"
Vor sieben Jahren überquerte Samrawit nachts die Grenze von Eritrea nach Äthiopien. Sie hat einen Bachelor in Englischer Literatur und einen Master in Journalismus und Webdesign. Beim Jesuitischen Flüchtlingsdienst unterrichtet sie andere Flüchtlinge in Englisch. Damit kann sie für sich und ihre sechsjährige Tochter ein wenig dazuzuverdienen. "Wenigstens kann ich hier meine Religion ausüben", sagt Samrawit aus Eritrea. Die 30-Jährige ist Anhängerin einer Pfingstgemeinde. "Aber wenn man finanziell kaum über die Runden kommt, dann zählen solche Freiheiten wenig."
Die Namen der Menschen aus Eritrea wurden auf ihren Wunsch geändert.