Moria 2: Vom Regen in die Traufe
11. Oktober 2020Die Pfützen sind riesig, die sich vor den Zelten des Flüchtlingslagers Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos gebildet haben. Kinder tapsen barfuß oder mit Plastikschlappen durch das Wasser. Eine Frau hat ein Neugeborenes in eine dicke rosafarbene Decke gehüllt, während sie die Kinder beobachtet. In den Zelten sieht die Lage nicht besser aus. Die Bewohner versuchen das braune Wasser mit Schaufeln herauszuschippen - oft vergeblich. Auch unter den Plastikplanen des Zeltbodens steht das Regenwasser und bläht die Abdeckungen auf.
Diese Videos und Fotos, die bei Twitter und anderen Netzwerken im Internet zu sehen sind, lassen nur erahnen, wie hilflos sich die Menschen auf Lesbos nach den massiven Regengüssen in dieser Woche gefühlt haben müssen. "Das Wasser kam in unser Zelt und alles wurde geflutet", berichtet Ahmad Shuaib Abawi der DW. Der 26-jährige Afghane lebt mit seiner neunköpfigen Familie in einem der rund 1100 Zelte in dem "Übergangslager", wie es die griechischen Behörden nennen.
Dabei sollte hier alles anders werden, geordneter, sicherer, nachdem das umstrittene und völlig überfüllte Flüchtlingscamp Moria, nur wenige Fahrminuten von Kara Tepe entfernt, vor gut einem Monat abgebrannt war.
80 Zelte zerstört
Das neue Lager Kara Tepe wird auch Moria 2 genannt. Kritiker hatten es schon vor dem heftigen Regen als "menschenunwürdig" bezeichnet. Jetzt hat das Wasser rund 80 von 1100 Zelten zerstört. Die Behörden hätten "sofort" begonnen, die Probleme zu beheben, heißt es aus dem griechischen Einwanderungsministerium.
Es sei normal, dass eine "vorübergehende Unterkunft, die binnen weniger Tage errichtet wurde, Problemen gegenübersteht". Zudem sei nur ein kleiner Teil des Lagers von den Überschwemmungen betroffen, einige Geflüchtete seien vorübergehend erneut verlegt worden. Derzeit leben nach Angaben der griechischen Regierung knapp 10.000 Menschen in Kara Tepe.
Flüchtlingsalltag: warten, warten, warten
"Es ist wirklich schrecklich", beschreibt Marion MacGregor die Lage im Camp. Sie war für das Onlineportal InfoMigrants in den vergangenen Tagen auf Lesbos unterwegs. Den Bewohnern gehe es nicht gut, besonders die psychische Belastung sei enorm. "Sie wollen nicht Jahre ihres Lebens in dieser Situation, unter diesen Bedingungen verlieren", berichtet MacGregor. "Sie wollen einfach ihre Anhörung zu ihrem Asylantrag haben, damit es weitergeht." Doch für viele heißt es erst einmal: weiter warten. Im Camp. Trotz des anstehenden Winters. Ohne Duschen. Ohne ausreichendes Essen.
Wäre die Situation nicht so katastrophal, könnte man den Ort, an dem Kara Tepe innerhalb einer Woche aus dem Boden gestampft wurde, bei gutem Wetter gar als idyllisch bezeichnen. Das Camp steht direkt an der Küste, die Morgensonne taucht die Zeltstadt hin und wieder in ein warmes Orange. Die Nähe zum Strand hat im Alltag aber nichts Idyllisches. "Die Menschen waschen sich im Meer", erzählt MacGregor. Das bereite vor allem den Frauen Probleme, die so keine Privatsphäre hätten. Mobile Toiletten stehen für die Notdurft zur Verfügung, 345 an der Zahl, wie Bewohner der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen berichtet haben.
Essenspakete machen nicht satt
"Einmal am Tag gibt es ein Essenspaket, aber das nicht reicht", so die InfoMigrants-Reporterin. Darum versuchen manche Flüchtlinge, in der Stadt Flaschen oder Taschentücher zu verkaufen, um sich mit dem Erlös zusätzliche Nahrungsmittel zu besorgen. Immerhin: Strom hätten viele Campbewohner über Solarpanele.
Ist die Situation im neuen Lager - trotz dieser Widrigkeiten - besser als in Moria? Die Meinungen der Migranten gehen da auseinander. Marion MacGregor hat gehört, dass es zumindest weniger Gewalt gebe - dank der enormen Polizeipräsenz vor und im Camp. Auch der afghanische Flüchtling Ahmad Shuaib Abawi sagt: "Es geht uns hier nicht schlecht. Aber wir verlieren Zeit, die wir nutzen könnten. Die Kinder könnten zur Schule gehen, wir könnten studieren." Er wolle sich weiterentwickeln "und nicht zurückgeworfen werden".
Sieben Quadratmeter für zwei Familien
Marco Sandrone, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos, kennt auch andere Berichte: "Die Zustände in dem neuen Lager erinnern uns stark an Moria. Bewohner sagen, dass einige Zelte keinen Boden haben." In der Zeit vor den Regenfällen schliefen sie auf Fels und Staub, jetzt ist der Zeltboden ein einziger Matsch, den viele Familien auch noch mit einer anderen teilen müssen. Auf rund sieben Quadratmetern kochen, essen und schlafen sie so.
Das seien keine menschenwürdigen Lebensbedingungen, da sind sich die Hilfsorganisationen vor Ort einig - im Gegensatz zu den Versprechen des griechischen Einwanderungsministeriums, "anständige Bedingungen", medizinische Versorgung und ausreichend Nahrung bereitzustellen. "Genug ist genug", heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme mehrerer Hilfsorganisationen, darunter auch Ärzte ohne Grenzen. "Wir bekräftigen unsere Forderung danach, diese Menschen in sichere und menschenwürdige Unterkünfte zu bringen. Auch andere europäische Staaten müssen die Schutzsuchenden aufnehmen, um die Situation auf den griechischen Inseln zu entlasten."
Appell an die EU
Nach Angaben des griechischen Migrationsministeriums wurden seit September rund 2500 Menschen aus Kara Tepe in andere Unterkünfte innerhalb der EU verlegt, 1300 weitere Menschen sollen das Lager bald verlassen dürfen. Deutschland hat sich bereit erklärt, 1500 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, Frankreich 900.
Für die Hilfsorganisationen ist aber klar: Das reicht nicht. "Wir appellieren an die führenden Politikerinnen und Politiker der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer, die Abschottungspolitik auf den griechischen Inseln zu beenden und die Pläne zu verwerfen, sich an den Außengrenzen noch weiter zu verschanzen", heißt es in der Stellungnahme. Vorerst wird sich aber in Kara Tepe nichts ändern. Das Warten geht weiter - und das Hoffen, dass der nächste Regen nicht wieder alles überflutet.