Folter-Videos: Abu-Ghuraib in Saratow
10. Oktober 2021Man braucht starke Nerven, um sich diese Videos anzuschauen. Auf einem ist zu sehen, wie ein auf einem Bett festgebundener nackter Mann mit einem Besenstiel vergewaltigt wird. Der rund dreiminütige Ausschnitt ist verpixelt, doch das macht es nicht erträglicher. Das Opfer schreit und bittet um Gnade. Sein Folterer, ein Mann in schwarzer Kleidung, hört nicht auf, flucht mit ruhiger Stimme und fragt immer wieder: "Hast du was zu sagen? Erinnerst du dich?"
Die Szene wirkt routiniert. Das Video enthält ein Datum, 18. Februar 2020, und die Uhrzeit: 22:29 Uhr. Es soll im Vollzugskrankenhaus für Tuberkulose in der südostrussischen Stadt Saratow an der Wolga aufgenommen worden sein. Gefilmt wurde offenbar mit einer Dienstkamera, einer Body-Cam, wie sie Polizisten oder Vollzugsbeamte tragen. Es wurde am 5. Oktober 2021 zusammen mit anderen Aufnahmen im Internet veröffentlicht und hat einen Skandal ausgelöst, der Russland gerade erschüttert. "Die Alltäglichkeit der Folter erschreckt", schrieb der russische Politik-Experte, Publizist und DW-Kolumnist Fjodor Krascheninnikow. "Es ist unvorstellbar, dass im 21. Jahrhundert in einer staatlichen Einrichtung Rituale durchgeführt und für eine Datenbank gefilmt werden, die im kriminellen Milieu verwurzelt sind."
Es gab auch früher publik gewordene interne Folteraufnahmen aus russischen Vollzugsanstalten, doch das Ausmaß ist diesmal beispiellos und erinnert an den Abu-Ghuraib-Skandal der US-Armee im Irak. Den Menschenrechtlern des russischen Webprojekts Gulagu.net wurde eine Datenbank zugespielt, die Folter in Vollzugsanstalten dokumentieren soll, vor allem in Saratow und Irkutsk in Sibirien.
Mehr als 40 Gigabyte Beweismaterial
Gulagu.net (der Name bedeutet auf Russisch"Nein zum GULAG", eine Anspielung auf die gleichnamigen Straflager zu Sowjet-Zeiten) wurde 2011 von Wladimir Osetschkin gegründet. Er setzt sich für die Rechte von Häftlingen ein. Im Sommer 2021 sperrten die russischen Behörden die Webseite des Projekts. Osetschkin lebt und arbeitet im Exil in einem europäischen Staat.
Die brisanten Aufnahmen wurden seinem Team im Frühjahr zunächst einzeln und anonym zugeschickt, erzählt Osetschkin in einem DW-Gespräch. Danach habe sich ein junger Mann gemeldet und um Hilfe bei der Flucht in den Westen gebeten - ein Kronzeuge mit mehr als 40 Gigabyte Beweismaterial: Videos, Fotos, Dokumente. "Zunächst haben wir gedacht, das sei verrückt, ein Krimi", sagt Osetschkin. Der junge Mann habe erzählt, er sei ein IT-Fachmann und selbst inhaftiert gewesen, im Gefängnis sei er als "Helfer" mit Zugang zur Datenbank eingesetzt worden. Nach einer Überprüfung habe man die Videos als authentisch eingestuft und dem Whistleblower geholfen: "Er ist jetzt in relativer Sicherheit."
Ein System innerhalb des Vollzugs?
Osetschkin erhebt schwere Vorwürfe gegen den russischen Vollzug. "Das ist teuflisches Zeug, eine Dehumanisierung", sagt der Menschenrechtler. "Zuvor konnten wir uns nicht vorstellen, dass man so etwas mit einer Body-Cam filmen kann." Das gesichtete Material lasse vermuten, dass innerhalb der Strafjustiz ein menschenverachtendes System aufgebaut wurde. Es soll spezielle Räume gegeben haben, in denen regelmäßig gefoltert, verhört und gefilmt wurde. Täter sollen Vollzugsbeamte, aber auch andere Häftlinge gewesen sein, die dafür eine Art Belohnung bekamen, etwa Lebensmittel, Drogen oder Zugang zu Prostituierten, so Osetschkin. Alles sei "strukturiert" abgelaufen. Es habe Folterer, aber auch Berichterstatter gegeben, die Vernehmungsprotokolle geschrieben haben.
Osetschkin spricht von mehr als 200 dokumentierten Vergewaltigungen in diversen Anstalten: "Es sind Oberste und Generäle des Vollzugs, die das im Aufklärungsfieber geschaffen haben, um Befehle auszuführen". Seine Prognose: Es werde "Dutzende Strafverfahren und Schuldsprüche" geben.
Moskau verspricht Aufklärung
Im Moment gibt es nach offiziellen Angaben sieben Ermittlungsverfahren. Viele Beobachter sind überrascht von dem Eiltempo, mit dem die russische Führung auf die Enthüllungen bisher reagierte. Zusätzlich zu den Ermittlungen, die von Moskau übernommen wurden, wurden mehrere Beamte entlassen und es wurde eine interne Untersuchung eingeleitet. In den kommenden Tagen will ein Vertreter des präsidialen Menschenrechtsrates nach Saratow reisen.
Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, versprach eine "ernsthafte Aufklärung", sollten sich die Vorwürfe bestätigen. Auch Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender der Staatsduma, meldete sich. "Ich bleibe dran", sagte der Spitzenpolitiker. Für Wolodin ist das Ganze besonders brisant, denn er stammt aus dem Gebiet Saratow und war dort früher Vize-Gouverneur. Manche erklären die Schnelligkeit der Behörden mit Befürchtungen in Moskau, der Skandal könnte sich negativ auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirken. Das sei anders als Enthüllungen über korrupte Eliten, meint Osetschkin.
Der Menschenrechtler freut sich über die mediale Resonanz und die schnellen Entscheidungen. "Das Folterfließband wurde gestoppt, das ist ein Durchbruch", sagt Osetschkin. Er fragt sich allerdings, ob es nicht an einem anderen Ort wiederaufgebaut werden könnte, zu dem der Zugang dann wieder schwieriger sein dürfte.