Foltern im Namen des Friedens
31. Oktober 2013Der Hilferuf drang durch die Mauer. Die Schreie wurden immer lauter und schmerzerfüllter. Im Polizeihauptquartier in Rio de Janeiros Armutsviertel Rocinha folterten Uniformierte einen Anwohner mit Elektroschocks. Doch die diensthabenden Kollegen im Nebenraum eilten dem Opfer nicht zur Hilfe. Stattdessen hielten sie sich die Ohren zu. Irgendwann wurde es ganz still.
Das Opfer war der Bauarbeiter Amarildo de Souza. Er wurde am 14. Juli 2013 "aus Versehen" in Rocinha festgenommen - die Polizisten, die ihn festnahmen, hielten den Bauarbeiter irrtümlich für einen Drogenhändler. Seitdem ist er verschwunden. Seine Familie geht davon aus, dass er tot ist, obwohl noch kein Leichnam gefunden wurde.
Die Suche nach Amarildo hat sich zu einem landesweiten Symbol für den Kampf gegen Polizeiwillkür und Gewalt entwickelt. Seit Mitglieder der neuen Friedenspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora = Friedenseinheit der Polizei) Anfang dieser Woche eingestanden, dass Folter zu ihrem Arbeitsalltag gehört, ist Rio in Aufruhr. Die Kritik am Sicherheitskonzept der UPP wird immer lauter.
Die Friedenspolizei soll Drogenhändler aus Rios Armutsvierteln vertreiben und die Kriminalität bekämpfen. Doch nun ist das international viel beachtete Rezept von Rios Regierung für öffentliche Sicherheit vor der WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 unter Beschuss geraten.
Schockierende Geständnisse
"Die Polizisten sollen Folter verhindern, und haben genau das Gegenteil getan", sagt Staatsanwältin Carmen Eliza Bastos de Carvalho. "Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um die Friedenspolizei handelt, ist das umso schockierender - denn ihre Aufgabe besteht ja darin, die Armutsviertel zu befrieden und Hoffnung zu verbreiten", erklärt die Juristin im Gespräch mit der DW. "Jetzt haben sie alles zerstört."
Die für den Fall Amarildo zuständige Staatsanwältin des Bundesstaates Rio de Janeiro vernahm Zeugen und Angeklagte und suspendierte 25 der insgesamt 700 Ordnungshüter der UPP Rocinha von ihrem Dienst. Die Geständnisse der Polizisten schockierten selbst die durch ihr Amt mit Polizeigewalt vertraute Juristin.
Monatelang hatten die Polizisten in der UPP-Einheit Rocinha behauptet, der Bauarbeiter Amarildo sei von Drogenhändlern ermordet worden. Doch nach drei Monaten ließ sich die künstlich konstruierte Version nicht mehr aufrechthalten. Fünf Polizisten brachen ihr Schweigen. Seitdem wird die brasilianische Öffentlichkeit täglich mit neuen Grausamkeiten konfrontiert.
Kritik am Vorzeigeprojekt
Nicht erst durch den Folterskandal im Armenviertel Rocinha ist die UPP in Rio in Verruf geraten. Fünf Jahre nach der Gründung der Friedenspolizei wächst die Kritik an dem einstigen Vorzeigeprojekt. Insgesamt 36 von rund 300 Favelas, wie die Armutsviertel in der Millionenmetropole genannt werden, stehen zurzeit unter der Kontrolle der neuen Friedenspolizei. Bis 2014 sollen es 40 sein. 9000 der insgesamt 45.000 Militärpolizisten in der Stadt absolvieren ihre Dienste mittlerweile in einer der 36 UPP- Einheiten in den Favelas.
Doch je mehr Armutsviertel erobert werden, desto lauter werden die Klagen über Willkür, Bestechung, Folter und unrechtmäßige Festnahmen. Nach einer Umfrage der brasilianischen Tageszeitung "Folha de Sao Paulo" gab es in 25 von insgesamt 33 untersuchten Armutsvierteln Beschwerden von den Bewohnern. Zudem stieg die Zahl der als vermisst gemeldeten Personen stark an.
"Die Polizei in Rio wurde immer als Kriegspolizei wahrgenommen", räumt Militärpolizistin Bianca Santana ein. Sie arbeitet seit Februar 2011 in der UPP "Prazer Escondidinho" in der Nähe von Rios Stadtzentrum. Anfeindungen sind für sie normal. "Wir sind hier schon mit Steinen beworfen, beschimpft und beleidigt worden", sagt sie. Doch mittlerweile hätten sich die Leute an die Friedenspolizisten gewöhnt und sie akzeptiert.
Neue Polizei mit alter Belegschaft?
Mauricio Santoro von Amnesty International in Brasilien ist sich da nicht so sicher. Er würde die Militärpolizei am liebsten ganz abschaffen. "Es ist nicht das erste Mal, dass die Friedenspolizei wegen Folter und Mord angeklagt wird", erklärt er. Der Fall Amarildo spiegele all' diese bitteren Erfahrungen wider. Er sei deshalb von zentraler Bedeutung für die laufende Debatte über öffentliche Sicherheitspolitik in Rio.
Dabei begann alles so verheißungsvoll: Als im Dezember 2008 Polizisten und Soldaten die erste Favela, Dona Marta, in Rio besetzten, fiel nicht ein einziger Schuss. Auch die meisten darauffolgenden Besetzungen verliefen friedlich. Das Konzept, eine ständige Polizeipräsenz in Rios Favelas einzurichten und dadurch Drogenmafia und Milizen zu vertreiben, schien aufzugehen.
Immobilienboom in der Favela
Mit der Rückkehr der Staatsmacht normalisierte sich auch der Alltag der Favela-Bewohner. Kindergärten öffneten wieder, und die städtische Müllabfuhr fuhr erneut auf die schwer zugänglichen, dichtbesiedelten Hügel der Stadt. Weil sich Polizei und Drogenhändler keine Gefechte mehr lieferten, gingen die Mordraten drastisch zurück. Geschäftstüchtige Bewohner eröffneten Restaurants und vermieteten ihre Dachterrassen für Fotoshootings. Die neu gewonnene Sicherheit löste einen Boom bei den Immobilienpreisen aus.
Der Folterskandal in der UPP Rocinha hat die Illusion von einer neuen friedlichen Polizei nun beendet. Amnesty-Aktivist Mauricio Santoro ist davon alles andere als überrascht. "Warum sollten Militärpolizisten sich auf einmal ändern?" fragt er. Es sei einfach nicht möglich, eine neue, andersartige Polizei mit alten Ordnungshütern ins Leben zu rufen.
Für Staatsanwältin Carmen Eliza Bastos de Carvalho gibt es dennoch keine Alternative zum Konzept der Friedenspolizei. "Natürlich ist es schockierend, was in Rocinha passiert ist", sagt sie. Trotzdem ist sie davon überzeugt, dass die UPP notwendig ist. "Wir haben erstmals direkten Zugang zu den Bewohnern und die Leute trauen sich jetzt, die Täter anzuzeigen."