Forscher, die auf Ziegen starren
16. Oktober 2014Gemächlichen Schrittes stolziert eine Herde Ziegen von den Flanken des Vulkans ins Tal. Einmal im Jahr treiben die Hirten sie von den Höhenlagen zurück ins Dorf. Zwischen altbekannten Glöckchen fallen durchgewetzte Lederhalsbänder auf. An einigen baumeln inzwischen freiliegende Batterien. Die schönen, sizilianischen Tiere werden bereits sehnsüchtig erwartet: Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie stattet die Ziegen seit 2011 mit GPS-Sendern aus, um damit Vulkanausbrüche vorherzusagen – und hat dabei auch mit Materialverschleiß zu kämpfen: "Nach zwei Jahren hatten die Ziegen auch das härteste Material durchgewetzt."
Auf die Ziege gekommen
Vulkanausbrüche mithilfe der Beobachtung von Ziegen vorherzusagen klingt im ersten Moment wie eine Bauernweisheit, weit entfernt von Wissenschaft. Doch das Phänomen beobachten Bewohner der Region um den Ätna seit Generationen. Das hat inzwischen auch Forscher neugierig gemacht. Die GPS-Sender des Max-Planck-Instituts wiegen gerade einmal 390 Gramm. Sie übermitteln über Funk neben der genauen Position und Bewegungsmustern auch Informationen über die Geschwindigkeit der Tiere.
Dabei geht es weniger darum, die schnellste Ziege zu ermitteln, als um Verhaltensrückschlüsse. Die Forscher bestimmen damit, ob ein Tier schläft, über unzugängliches Terrain klettert oder gemächlich grast. Abweichende Bewegungsmuster lassen Rückschlüsse auf besondere Ereignisse im Umfeld der Ziegen zu. Die besenderten Tiere sind außerdem nicht gemeinsam unterwegs. "Manche Tiere werden von Hunden oder vom vorbeifahrenden Bauern aufgescheucht." Wenn die Aktivität aber bei allen Tieren zunähme, dann "wissen wir: jetzt passiert etwas Komisches", erklärt Martin Wikelski.
Die Schwierigkeit bei der Untersuchung liegt in der langen Zeit, die häufig zwischen zwei Vulkanausbrüchen vergeht. Der Ätna auf Sizilien liefert dabei gute Chancen auf einen Erfolg. Er gilt nach wie vor als der aktivste Vulkan Europas.
Erste Erfolge bereits 2012
Ein erster Durchbruch gelang den Forschern um Martin Wikelski im Jahr 2012. Wenige Stunden nachdem die Sender eine unnatürlich starke Aktivität bei den Ziegen aufgezeichnet hatten, kam es am Ätna zu einer besonders starken Eruption. Im Verlauf von zwei Jahren folgten insgesamt 27 Ausbrüche unterschiedlicher Stärke. Bei größeren Eruptionen teilten die Ziegen dies den Forschern immer verlässlich durch erhöhte Aktivität mit.
Doch obwohl die Forscher mit ihren Versuchen statistisch absichern konnten, dass Ziegen Vulkanausbrüche vorhersagen können: Über das "Wie" wird immer noch gerätselt. "Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus besonderen Gegebenheiten am Ätna und den Fähigkeiten der Ziegen", so Wikelski.
Eine Vermutung gilt dem Geruchssinn der Wiederkäuer. Eventuell sind sie in der Lage, vor Ausbrüchen entweichende Gase, die mit Schwefeldioxid und Schwefelwasserstoff angereichert sind, wahrzunehmen. Trotz der Unsicherheit hat Martin Wikelski seine Idee bereits beim europäischen Patentamt unter dem – etwas ungeschickt gewählten – Namen DAMN (Disaster Alert Mediation using Nature) eingereicht. "Damn" bedeutet im Englischen "Mist" oder "verdammt".
Der Blick aus dem Weltraum
Um sich von unzuverlässigen Funkverbindungen unabhängig zu machen und globale Tierbewegungen beobachten zu können, haben die Forscher am Max-Planck-Institut Radolfzell das Projekt ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space) ins Leben gerufen. Dafür soll Ende 2015 eine Antenne an der ISS angebracht werden, die Daten von Sendern weltweit empfängt. Dazu kooperiert das Institut mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der russischen Raumfahrtagentur Rosskosmos. Zu den überwachten Tieren zählen auch die Ziegen vom Ätna. "Das System wird Anfang 2016 gestartet und soll dann zwischen fünf und zehn Jahre laufen", so Wikelski.
Spätestens dann bewegen sich die "Vulkanziegen" weiter weg von der Bauernweisheit hin zu seriöser Wissenschaft, die irgendwann einmal viele Menschenleben retten kann. Martin Wikelski zeigt sich jetzt schon optimistisch: "Es gibt noch sehr viel Forschungsbedarf. Aber wir haben erste Hinweise, dass die Methode funktionieren kann."