Lokomotive stottert auf dem EU-Gipfel
20. Oktober 2022Der Vorsitzende der Gipfelrunde, EU-Ratspräsident Charles Michel, hat die 27 Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, noch einmal zu Eile und klaren Entscheidungen gemahnt, um die Preis- und Energiekrise in diesem Winter zu meistern. Aber die Chancen dafür stehen nicht gut, denn die beiden wichtigsten Staaten der EU, Deutschland und Frankreich, sind sich bei der Energiepolitik uneins.
Bundeskanzler Olaf Scholz ist gegen einen strikten Deckel beim Gaskauf auf dem Weltmarkt; der französische Präsident Emmanuel Macron ist dafür. Und das ist nur einer der Streitpunkte zwischen Paris und Berlin, die nicht rechtzeitig für die Regierungskonsultationen ausgeräumt werden konnten, die für nächsten Mittwoch geplant waren. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit bestätigte, dass die jährliche gemeinsame Sitzung der beiden Kabinette wegen inhaltlicher Unstimmigkeiten und anhaltenden Abstimmungsbedarfs verschoben werden müsse. Allerdings spielten auch terminliche Gründe eine Rolle, wie der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sagte.
Macron: Einigkeit bewahren
Wenn die beiden größten EU-Staaten sich nicht einig sind, ist das kein gutes Omen für das Gipfeltreffen in Brüssel. Immerhin trafen sich Olaf Scholz und Emmanuel Macron zu einem vertraulichen Gespräch vor Beginn des großen Gipfels. Macron hatte zuvor erklärt, er habe Vertrauen in die deutsch-französische Zusammenarbeit, kritisierte aber auch vermeintliche Alleingänge Deutschlands in der Energie- und Rüstungspolitik. Außerdem missfällt dem Franzosen, wie vielen anderen EU-Staaten, dass die Bundesregierung allein für seine Bevölkerung 295 Milliarden Euro an Beihilfen und Schutzschirmen mobilisieren will. Hilfspakete in Frankreich fielen bescheidener aus, was zu Wettbewerbsverzerrung in der EU führe.
Deutsche Regierungsbeamte wiesen die Kritik als überzogen zurück und warfen Frankreich vor, das Pipeline-Projekt Midcat zwischen Spanien und Deutschland aus eigenen wirtschaftlichen Interessen zu blockieren. Präsident Macron schwenkte vor dem Gipfel ein weiteres rotes Tuch für die Deutschen: Er tritt für gemeinsame Schulden der EU ein, um Hilfen für Energiekunden zu finanzieren. Bundeskanzler Olaf Scholz argumentiert, es gebe noch genug Geld im Corona-Aufbaufonds der EU, das man dafür verwenden könne. Er werde mit Olaf Scholz das Problem besprechen, sagte Macron "Wir müssen absolut unsere Einigkeit bewahren."
Im Moment ist nicht klar, ob Bundeskanzler Scholz - ohne Minister - nächste Woche nach Paris reisen wird, um die Falten im deutsch-französischen Verhältnis wieder glatt zu bügeln.
EU-Kommission schlägt Eingriffe in die Märkte vor
Beim Gipfel in Brüssel beraten die Staats- und Regierungschefs über eine Reihe von komplexen Vorschlägen der EU-Kommission, um die Energieversorgung in der EU zu erträglichen Preisen zu sichern. Etwa die Hälfte aller Mitgliedstaaten bekommt kein Erdgas mehr aus russischen Pipelines, darunter der bislang größte Kunde Deutschland.
Die EU-Kommission schlägt nun erneut vor, mehr Energie einzusparen, eine Einkaufsgemeinschaft für europäische Gasversorger zu bilden und die Preisfindung für das immer wichtigere Flüssiggas neu zu ordnen. Der Strompreis soll mittelfristig unabhängig vom Gaspreis werden. Außerdem will die Kommission 40 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt umwidmen, um den Mitgliedsstaaten zu ermöglichen, Härten bei den Energiepreisen abzufedern. Mit den befreundeten Lieferanten in den USA, Katar und Norwegen soll über niedrigere Preise verhandelt werden.
Keine Preis-Obergrenze für den Import
15 Staaten, darunter Frankreich, wollen sogar einen generellen Deckel für Gas- oder Strompreise, um den Märkten zu signalisieren: bis hierhin und nicht weiter. Das aber lehnt die EU-Kommission wie Deutschland als unberechenbaren Eingriff in den Markt ab. In der EU könne das zu Gasmangel führen, wenn andere Staaten einen höheren Preis bieten, befürchten die Gegner der Preis-Obergrenze.
Phuc-Vinh Nguyen, Energieexperte des Jacques-Delors-Instituts in Paris, stimmt dem im Gespräch mit der DW zu: "Das Flüssiggas würde nach Asien verkauft. Man müsste Norwegen und Algerien, die per Pipeline liefern, überzeugen, billiger zu verkaufen." Insgesamt sieht Nguyen die vorgeschlagenen Eingriffe kritisch: "Das ist alles ein wenig unscharf im Moment. Es ist schwer die Regeln während des Spiels zu ändern. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man die Marktmechanismen manipulieren will."
Scholz: Es muss funktionieren
Untersucht werden soll das spanische Modell eines Gaspreisdeckels, der nur für Gas gilt, mit dem Strom erzeugt wird. Dieser Deckel hat zu niedrigeren Strompreisen in Spanien geführt. Die deutsche Delegation ist bereit, der EU-Kommission den Auftrag zu erteilen, das spanische Modell weiter zu prüfen, Entscheidungen sollen jedoch nicht fallen. "Es ist auch so, dass wir gucken müssen, dass wir das, was wir entscheiden, so einrichten, dass es funktioniert. Niemand möchte beschließen, was theoretisch gut ist, es aber dann kein Gas gibt", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Brüssel.
Es wird eine lange Beratungsnacht erwartet. Ergebnisse gebe es vielleicht erst am Freitag, deutete Ratspräsident Charles Michel an.
Der tatsächliche Gaspreis in Europa fällt zurzeit. Das liegt allerdings weniger an Beschlüssen des EU-Gipfels, als an mildem Wetter, verglichen mit dem Vorjahr geringerem Verbrauch und prall gefüllten Vorratsspeichern. Im August hatte der Gaspreis in Europa seine Spitze mit 350 Euro pro Megawattstunde erreicht. Heute lag der Preis bei 107 Euro. Vor einem Jahr, also vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, rangierte der Preis bei 45 Euro. Der Gaspreis unterscheidet sich regional. In Spanien liegt er deutlich niedriger als in Deutschland oder Italien.
Sanktionen gegen Iran
Die EU wird sich nicht nur mit der eigenen wirtschaftlichen Lage beschäftigen, sondern auch Hilfen für die Ukraine beschließen und ihre Unterstützung gegen Russland zusichern, so lange diese nötig ist. Kurz vor dem Gipfeltreffen einigte sich die EU zudem darauf, Sanktionen gegen drei Personen und eine Institution im Iran zu verhängen. Sie sollen Kamikaze-Drohnen an Russland geliefert haben, die die russische Armee gegen die ukrainische Zivilbevölkerung einsetzt. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte die Drohnen-Angriffe gegen Wohnblocks und Versorgungseinrichtungen als russischen "Staatsterrorismus" gebrandmarkt.