Wenn Paris auf Berlin schimpft
18. Juli 2015Die Kanzlerin zeigte Herz - auf ihre Weise. "Das ist manchmal auch hart, Politik", wandte sich Angela Merkel an die junge Reem, die mit ihren Eltern bis vor vier Jahren in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon gelebte hatte und dann nach Deutschland kam. Es ist hart, sagte die Kanzlerin, denn: "Es werden manche wieder zurückgehen müssen."
Der Versuch der Kanzlerin, dem verzweifelten Mädchen die starren Regeln des deutschen Asylgesetzes nahezubringen, ist auch in Frankeich zur Kenntnis genommen worden. Dort erinnert man sich an einen ähnlichen Vorfall im Oktober 2013. Damals kam es zu einem ebenfalls öffentlichen Dialog zwischen Präsident François Hollande und einer jungen, ebenfalls von der Abschiebung bedrohten Kosovarin. Hollande versuchte zu helfen. Und versprach dem Mädchen, es könne nach der Abschiebung zurück nach Frankreich kommen - allerdings allein, ohne die Eltern. Ein Kompromiss, der sich mit dem Gesetz zwar nicht deckte, ihm aber auch nicht allzu offensichtlich widersprach.
Unterschiede bei Bewältigung der Griechenland-Krise
Zwei Nationen, zwei politische Führungsgestalten - und, wie es scheint, zwei Arten, Gesetze auszulegen. In Deutschland das strikte Beharren auf dem Gesetz - und in Frankreich der Versuch, dessen Geist auf die Möglichkeit einer menschlichen Lösung abzutasten.
Denselben Umgang, bemerkt in ihrer Samstags-Ausgabe die Zeitung "Le Monde", pflegen Merkel und Hollande auch im Umgang mit der Griechenland-Krise. Auch hier drängte Deutschland darauf, die Stabilitätsvereinbarungen möglichst strikt auszulegen. Mehrere südeuropäische Länder sprachen sich hingegen für einen größeren Deutungsspielraum aus.
Das entschlossene Beharren auf dem Gesetz stößt in Frankreich auf wenig Sympathie. Deutschland wolle Griechenland "zermalmen", indem es ihm unter Androhung des "Grexit" dazu zwinge, sich einem "tödlichen Plan zu unterwerfen", schrieb etwa Nicolas-Dupont Aignan, der Vorsitzende der - allerdings nur mit zwei Sitzen im französischen Parlament vertretenen - eurokritischen Partei Debout la France. Was die deutsche Haltung für ihn bedeutet, daran ließ er keinen Zweifel: "Das Vierte Reich!"
Ähnlich äußerte sich auch Jean-Luc Mélenchon, Mitglied im Europäischen Parlament und Vorsitzender des Parti Gauche. Die heutige Situation sei mit der während des Zweiten Weltkriegs zwar nicht zu vergleichen. Und auch die Ideologie sei eine andere. "Aber es handelt sich um den gleichen korporatistischen Geist, die gleiche Arroganz, die gleiche Blindheit." Zum dritten Mal in der Geschichte, erklärte Mélenchon, "ist die Verbissenheit einer deutschen Regierung dabei, Europa zu zerstören".
"Brief an einen deutschen Freund"
Weniger drastisch, aber umso anspielungsreicher äußert sich Jean-Christophe Cambadélis, der Vorsitzende des regierenden Parti Socialiste. Er veröffentlichte eine "Lettre à un ami allemand" ("Brief an einen deutschen Freund"), um noch einmal auf die möglichen Folgen des deutschen Verständnisses von Regeln und Vereinbarungen hinzuweisen. Unter dem exakt gleichen Titel hatte auch der Philosoph Albert Camus 1945, nach der Niederlage der Deutschen, einen berühmt gewordenen Brief geschrieben. Gebildete Franzosen verstehen die Anspielung. Inhaltlich inszeniert sich Cambadélis als warnender Freund: Äußerungen wie die von Jean-Luc Mélenchon würden nur von einer Minderheit geteilt. "Aber ich spüre, dass sich gegenüber Deutschland Spannung und Unruhe ergeben können."
Offen lässt Cambadélis, wo genau er das verspürt: in seiner Partei oder im gesamten Land. In einer am 12. Juli veröffentlichten Umfrage erklärten 58 Prozent aller Franzosen, ein "Grexit" stelle nur eine vorübergehende Krise dar, die das "europäische Haus" ("la construction européenne") nicht ernsthaft erschüttere. Die übrigen 42 Prozent bewerteten einen möglichen Grexit als "sehr ernste Krise", die Europa durchaus in Frage stelle. Die Mitglieder von Cambadélis´ Partei zeigten sich stärker beunruhigt, insgesamt aber auch unentschlossen: Die eine Hälfte bewertet einen "Grexit" als "vorübergehende", die andere als "schwere" Krise.
"Es genügt nicht, Recht zu haben"
Die deutsche Position, schreibt die Tageszeitung "Le Monde", stoße darum weniger inhaltlich auf Widerstand als vielmehr durch die Art, in der sie vertrete werde."Es genügt nicht, Recht zu haben. Man muss sein Partner auch zu überzeugen wissen", schreibt das Blatt. "Ungefähr das ist es, was man Politik nennt." Und noch etwas fehle den deutschen Unterhändlern: politisches Einfühlungsvermögen. Denn das "Ja" der Polen und Balten und das "Nein" der Griechen zum Austeritätsprogramm erkläre sich vor allem durch die jeweiligen Erwartungen: Hätten die Osteuropäer mit dem Sparprogramm vor allem Hoffnungen verbunden, hätten die Griechen vor ihm vor allem Angst. Daher die unterschiedlichen Haltungen.
Was Cambadélis´ Kritik an der angeblichen "Austeritätsideologie" der Deutschen angeht, vermutet "Le Monde" angesichts des gründlich aus dem Gleichgewicht geratenen französischen Staatshaushalts im Übrigen nicht nur selbstlose Motive: "Man macht sich zum Anwalt der griechischen Interessen, um nebenbei diejenigen Frankreichs zu verteidigen."