Neuling oder Nationalistin?
7. Mai 2017Die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo", die 2015 Ziel eines Terroranschlags in Paris war, fragt auf ihrer Titelseite vor der Stichwahl ums Präsidentenamt: "Müssen wir wirklich noch ein Bild malen?" Die Redaktion verzichtet auf die sonst übliche bissige Karikatur und mahnt die Leser, zur Wahl zu gehen, um die Rechtspopulistin Marine Le Pen als Präsidentin zu verhindern. Es müsse doch jedem klar sein, dass es am Sonntag darum gehe, die Demokratie zu schützen. Der Zweikampf zwischen dem Sozialliberalen Emmanuel Macron und der radikalen Nationalistin vom "Front National" ist nicht nur für Frankreich eine historische Entscheidung, auch die europäischen Nachbarn fiebern mit.
Nach den letzten Umfragen liegt der parteilose, erst 39 Jahre alte Macron mit ungefähr 60 zu 40 Prozentpunkten klar in Führung. Aber ist er uneinholbar oder kann es Überraschungen geben? Wahlforscher und Politikexperten sind vorsichtig. "Es kommt vor allem auf die Wahlbeteiligung an", meint Vivien Pertusot vom "Französischen Institut für Internationale Beziehungen" in Paris. Fällt die Wahlbeteiligung gering aus, könnte Marine Le Pen profitieren, weil sie im Gegensatz zu Emmanuel Macron eine durchorganisierte Partei mit Stammwählern im Rücken hat. Macron ist auf die Stimmen von Konservativen, Sozialdemokraten und auch Linksradikalen angewiesen, die sich im ersten Wahlgang vor zwei Wochen für andere Kandidaten entschieden haben.
Keine republikanische Front mehr
Alle früheren Kandidaten, außer dem erstaunlich erfolgreich Drittplatzieren, dem Altkommunisten Jean-Luc Mélenchon, haben zur Unterstützung von Macron aufgerufen. Mélenchon schert aus der sonst üblichen "republikanischen Front" gegen die Rechtspopulisten aus. Er erklärt aber, er sei natürlich gegen Le Pen, aber eben auch nicht für Macron. Das könnte dazu führen, dass viele Franzosen diesmal "weder noch" wählen, also entweder eine weiße Stimmkarte abgeben oder gar nicht erst an die Urne gehen.
Man müsse bedenken, dass das französische Parteiensystem völlig umgewälzt worden sei, sagt Politologe Vivien Pertusot. Keine der etablierten Parteien aus der Mitte hat es geschafft, einen Kandidaten in die Stichwahl zu schicken. Die französische Gesellschaft sei verunsichert, analysiert Pertusot: "Wir sind in einem Zustand der Verwirrung. Wenn man sich das anschaut, ist schwer zu erkennen, in welche Richtung es eigentlich gehen soll. Das spiegelt eine total polarisierte Gesellschaft wieder, wo wir seit langer Zeit Gewinner und Verlierer sehen. Die Verlierer wurden vom politischen Establishment fast vergessen. Die begehren jetzt auf und wollen die Lage verändern."
Viel Kritik muss die katholische Kirche Frankreichs einstecken, weil sie nicht eindeutig zur Wahl von Emmanuel Macron aufgerufen hat. 2002, als der Vater von Marine Le Pen, Jean-Marie Le Pen, es überraschend in die Stichwahl schaffte, hatten die Bischöfe sich noch eindeutig gegen den "Front National" ausgesprochen. Die katholische Tageszeitung "La Croix" kritisierte die Bischöfe für ihre laxe Haltung. Jüdische, islamische und evangelische Vertreter haben sich von Le Pen distanziert, die Grenzen schließen und den Islam zurückdrängen will.
Macron und Le Pen schenken sich nichts
Im kurzen und harten Wahlkampf haben sich die beiden Kandidaten gegenseitig Lügen vorgeworfen. Macron sagte, Le Pen baue auf Angstmacherei und manipuliere die Wähler. Le Pen drehte den Spieß um und warf Macron das Gleiche vor. "Immer die gleiche Litanei. Sie sind von außen jung, aber innen sind Sie alt. Ihre Argumente sind mindestens doppelt so alt wie Sie", sagte die Front-National-Kandidatin in der einzigen Fernsehdebatte des Wahlkampfs an Macron gerichtet.
Emmanuel Macron, der sich als liberaler Reformer von Wirtschaft, Gesellschaft und Europäischer Union anpreist, warf Le Pen vor, sie schüre Hass auf Muslime. "Der Kampf gegen die Terroristen darf nicht dazu führen, dass man in deren Falle gerät. Die Falle heißt Bürgerkrieg und Spaltung, die Sie in das Land tragen. Sie rufen dazu auf, indem sie Franzosen wegen ihrer Religion oder Herkunft verunglimpfen. Das werde ich niemals machen, niemals", sagte Macron im Fernsehsender BFMTV an Le Pen gerichtet.
Sieg Le Pens könnte Unruhen auslösen
Marine Le Pen arbeitet mit den gleichen Rezepten wie US-Präsident Donald Trump. Sie zeichnet ein düsteres Bild von der Lage und verkauft sich dann als alleinige Erlöserin, die die Nation wieder groß machen kann. Grenzen zu, Zölle rauf, raus aus der Gemeinschaftswährung Euro, möglicherweise der EU, aber ganz sicher aus der NATO, fordert sie. An Deutschland und den Europäern lässt die 48-Jährige kein gutes Haar: "Wir haben eine massive Deindustrialisierung erlebt. Wir haben die Entlassung unserer Arbeitskräfte und massive Firmenverlagerungen gesehen. Und heute, Herr Macron, leiden die Franzosen wegen Europa. Ja, wegen Europa!"
Der Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Frank Baasner, glaubt, dass Frankreich mit einer Präsidentin Le Pen in echte Probleme stürzen würde. "Das Land wäre sofort isoliert, wenn sie als Präsidentin auch nur die Hälfte ihrer Wahlversprechen tatsächlich umsetzt. Denken wir nur an den Austritt aus der EU. Deutschland würde jedoch - ähnlich wie mit US-Präsident Donald Trump - auch bei Le Pen zunächst abwarten", sagte Baasner der DW.
Der Frankreich-Experte befürchtet sogar Unruhen, falls der "Front National" überraschend siegen sollte: "Viele Menschen sind schon jetzt nicht bereit, sich zwischen Macron und Le Pen zu entscheiden. Da steckt viel sozialer Sprengstoff dahinter, viel Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung. Bei Le Pen als Siegerin würde sich dieser Sprengstoff sicher schnell entladen."
Frischer Wind mit Macron?
Emmanuel Macron spricht sich eindeutig für die Europäische Union und ihre Gemeinschaftswährung aus, weil die nötig seien, um Frankreich im globalen Wettbewerb mit China, den USA, Indien oder Russland zu schützen. "Ich will ein Europa, das schneller arbeitet. Ein Europa, das schützt und weniger bürokratisch ist. Wir haben gerade in der Globalisierung Europa sehr nötig", sagte Macron im Wahlkampf. Frank Baasner vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg vermutet: "Wenn Macron die Wahlen gewinnt und eine Mehrheit im Parlament erhalten sollte, wird es eine neue Bewegung innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen geben. Dann wird es in ganz Europa neue Impulse geben."
Die Rolle Frankreichs in Europa und die schleppenden Wirtschaftsreformen der vergangenen Jahre könnten nach Meinung von Vivien Pertusot vom "Französischen Insitut für Internationale Beziehungen" die Präsidentschaftswahl entscheiden. "Es gibt eine wachsende Angst vor der Globalisierung, die unser tägliches Leben bestimmt und unkontrollierbar ist. Dabei spielt Europa eine große negative Rolle, weil es für offene Grenzen, freien Warenverkehr und Niederlassungsfreiheit steht. Das führt zu dem Eindruck, Frankreich sei nicht mehr Herr seines Schicksals." Diese angeblich verlorene Kontrolle will Le Pen den Franzosen zurückgeben, versprach sie auf ihren Kundgebungen.
Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass die extreme Rechte im Norden und Südosten Frankreichs besonders stark ist. Dort gibt es die meisten Arbeitslosen und die niedrigsten Bildungsabschlüsse. Umgekehrt punktet Emmanuel Macron am meisten in Großstädten wie Paris und im reicheren und gebildeteren Westen der Republik.
Parlamentswahl im Juni
Wer auch immer am Sonntag Präsident Frankreich wird, er oder sie wird keine Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Juni erreichen. In der Nationalversammlung ist weder Macrons Bewegung "En Marche" noch Le Pens Front National vertreten. Einfaches Durchregieren wird es also nicht geben. Koalitionen und Kompromisse werden nötig sein und könnten die Ambitionen des Neuen oder der Neuen im Elyséepalast stark bremsen.
Die letzten Wahllokale schließen in Frankreich um 20 Uhr MESZ. Unmittelbar danach werden erste Prognosen erwartet. So ganz ohne Karikatur kam die Satirezeitung "Charlie Hebdo" in dieser spannenden Woche dann doch nicht aus. Auf der Rückseite zeigte sie, wie Marine Le Pen einen Faustschlag ins Gesicht erhält. "Müssen wir uns darüber wirklich noch streiten?", fragt das Blatt.