Frankreich: Warum vormals linke Bastionen rechts wählen
7. Juli 2024Das Département Cher in Zentralfrankreich war lange Zeit eine Hochburg der Linken. Im Zweiten Weltkrieg war es ein Zentrum des Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Frankreich war damals teilweise von den Deutschen besetzt. Der Rest des Landes kollaborierte mit dem faschistischen Nachbarstaat. Seit den 1950er Jahren sind mehrere Provinzstädte, wie das 27.000 Einwohner zählende Vierzon, fest in kommunistischer Hand. Der erste Wahlgang der vorgezogenen Parlamentswahlen vergangenen Sonntag kam da wie ein Paukenschlag. Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen lag in allen drei Wahlbezirken des Départements vorne. Hier, wie in anderen Teilen Frankreichs, hat sie für viele das Image des Schreckens verloren.
Auch landesweit war der RN und seine Verbündeten die stärkste Kraft - mit rund 33 Prozent der Stimmen. Darauf folgte das linksgerichtete Bündnis Neue Nationale Volksfront (NFP), zu dem die Linksaußenpartei Unbeugsames Frankreich, die Sozialistische Partei, die Grünen und die Kommunistische Partei gehören, mit 28 Prozent. Präsident Emmanuel Macrons Lager kam gerade einmal auf Platz drei mit 20 Prozent der Stimmen. Er hatte die Wahlen angesetzt, nachdem seine Partei bei den Europawahlen im Juni eine Schlappe erlitt.
Ein Votum gegen Einwanderung
RN-Kandidat Bastian Duenas lag im ersten Wahlgang mehr als zehn Prozentpunkte vor dem zweitplatzierten kommunistischen Kandidaten in einem der Wahlbezirke im Département Cher. "Unsere Partei liegen die Franzosen am meisten am Herzen", sagt der 22-jährige Jurastudent im makellosen hellblauen Anzug und mit Krawatte der DW, während er eine Wahlveranstaltung vorbereitet. "Wir werden Maßnahmen ergreifen, damit die Region ökonomisch wieder in Schwung kommt, Unternehmen hierher zurückkommen und Arbeitsplätze schaffen", verspricht er. Die Arbeitslosigkeit in Cher, einer ehemaligen Industrie- und Eisenbahnerhochburg, liegt an manchen Orten um mehrere Prozentpunkte über dem nationalen Durchschnitt von 7,5 Prozent.
Doch für die RN-Anhänger dort stehen andere Argumente im Vordergrund. "Der RN verteidigt unsere Werte - er wird Frankreich wieder groß machen", erklärt der 21-jährige Herman Caquais, der Feuerwehrmann werden will, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Neben ihm steht der 19-jährige Jules Pelladoni, Enkel eines italienischen Einwanderers. "Es geht um die Zukunft der französischen Zivilisation", sagt er. "Ich bin gegen Masseneinwanderung - viele Einwanderer wollen nicht arbeiten oder sich anpassen."
Aus Protest RN wählen
20 Kilometer nordwestlich, in der kleinen Siedlung Saint-Hilaire-de-Court, füttert die 64-jährige Geneviève de Brach einige ihrer 110 Kühe. "Viehzucht war mein Kindheitstraum, aber das Geschäft wird immer schwieriger - mit steigenden Steuern und Bürokratieaufwand", sagt die Mutter von drei Kindern, die auch Vorsitzende der regionalen Zweigstelle eines Bauernverbands ist, der DW. Im zweiten Wahlgang wird sie so zum ersten Mal in ihrem Leben nicht für alteingesessene Parteien, sondern für den RN stimmen. "Es gibt hier keine Ärzte mehr. Und die Regierung gibt Unmengen an Geld für neue Brücken woanders aus, während unsere Straßen tiefe Schlaglöcher haben. Ich habe das Gefühl, von einer abgehobenen Elite regiert zu werden - dabei müssen wir mit deren Entscheidungen leben", erklärt de Brach.
Dieses Gefühl hätten viele Franzosen, sagt Vincent Martigny, Politikprofessor an der Universität Côte d'Azur und der Pariser Ecole Polytechnique. "Der RN findet Anklang bei denjenigen, die kaum von der Globalisierung profitiert haben, sich abgehängt fühlen und deren reelles Einkommen über die vergangenen Jahrzehnte stetig gesunken ist", sagt er im Gespräch mit der DW. Pierre Allorant, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Orléans in Cher, ergänzt, dass Macron sich das gute Ergebnis des RN teilweise selbst zuzuschreiben hätte. "Er hat einen sehr vertikalen Regierungsstil und sich selbst zum Symbol der Mainstream-Politik und Bollwerk gegen die extreme Rechte gemacht", erklärt er. "Deswegen ist der RN die Proteststimme schlechthin geworden, während früher auch die Kommunisten als Protestwahl galten."
Allorant wundert nicht, dass nach Umfragen zwischen einem Fünftel und einem Drittel der 18- bis 24-Jährigen im ersten Wahlgang extrem rechts gewählt haben: "Junge Leute wissen kaum etwas über den Zweiten Weltkrieg - viele von ihnen können auch mit dem Namen Jean-Marie Le Pen nichts anfangen." Marine Le Pens Vater war in der Vergangenheit wegen seiner radikalen Aussagen für viele ein Grund, niemals den RN zu wählen. Gerichte verurteilten ihn mehrmals wegen verharmlosender Äußerungen zum Holocaust. Er hatte die Gaskammern der Nazis als "Detail" der Geschichte bezeichnet. Doch seine Tochter schloss ihn 2015 von der Partei aus - auch um deren Image aufzupolieren.
Den RN von der Macht fernhalten
Dass nun auch viele Wähler in Cher für den RN stimmen, findet Corinne Ollivier, die kommunistische Bürgermeisterin von Vierzon zutiefst schockierend. "Ich glaube an den Wert der Solidarität - es ist unerträglich, dass eine Partei stets die Angst vor den anderen schürt", sagt sie, während sie die frisch gestrichenen Räume eines Kindergartens besucht, den die Behörden gerade für 1,6 Millionen Euro renovieren lassen. "Wir hoffen, dass durch solche Projekte die Menschen verstehen, dass sie uns am Herzen liegen, und uns wieder unterstützen", meint die ehemalige Eisenbahnerin.
Die Kommunisten könnten die zweite Wahlrunde tatsächlich noch gewinnen. In Cher haben sich die Drittplatzierten des ersten Wahlgangs zurückgezogen, um die Chancen zu erhöhen, den RN im zweiten Wahlgang zu schlagen. Ähnliches ist in etwa 210 anderen der 577 Stimmenbezirke passiert. Denn für die zweite Runde qualifizieren sich alle Kandidaten, die die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent der registrierten Wähler auf sich vereinen. "Dieser Verzicht könnte dazu führen, dass der RN keine absolute Mehrheit im Parlament bekommt, wobei er laut Umfragen immer noch die stärkste Kraft werden dürfte", sagt Politikprofessor Martigny. Die Frage ist, wie lange diese Strategie der alteingesessenen Parteien, so den RN von der Macht fernzuhalten, noch wirken wird.