Frankreichs erfolgreiche Familienpolitik
11. Juni 2013"Die Deutschen werden wegen der niedrigen Geburtenrate immer weniger", rechnet Dominik Grillmeyer vom Deutsch-Französischen Institut vor, "die Franzosen immer mehr". 1,4 Kinder führen die Statistiker pro Frau in Deutschland auf, in Frankreich liegt die Geburtenrate bei knapp 2,1. In naher Zukunft werde Frankreichs Bevölkerung zahlenmäßig größer sein als die deutsche, schätzt Grillmeyer.
Doch die französische Familienpolitik fördere nicht nur das Wachstum der Bevölkerung, betont Christina Schildmann von der Friedrich-Ebert-Stiftung, sie biete auch mehr Chancengleichheit für Frauen, weil sie sich auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie konzentriere. Eine Studie ihrer Stiftung belege den Zusammenhang: "Je höher in einem Land die Erwerbstätigkeit von Frauen, desto höher ist auch die Geburtenrate", fasst Christina Schildmann zusammen, "das gilt auch für Skandinavien, nicht nur für Frankreich."
In die Kita für die Charakterbildung
Als die französische Regierung vor kurzem ankündigte, dass im Zuge der Sparpolitik auch die Familienleistungen auf den Prüfstand kämen, war die Aufregung im Land groß. Die Familienpolitik gilt in Frankreich als Kernstück des französischen Sozialmodells, an dem nicht gerüttelt werden darf.
Sie baut auf einem Menschenbild auf, das sich vom deutschen etwas unterscheidet. "In Frankreich gilt: je früher das Kind in die Gesellschaft kommt, desto besser für die Charakterbildung", erklärt Angela Greulich, die an der Pariser Universität Wirtschafts- und Sozialwissenschaften lehrt. "Man sieht das Neugeborene als eine Art weißes Blatt, das beschrieben werden muss: je mehr äußere Einflusse, desto besser für das Kind." In Deutschland pflege man eher die Vorstellung, dass man "das Kind möglichst lange vor der bösen Welt beschützen muss, damit es seine reine Seele behält."
Die deutschen Rabenmütter-Ängste
Dieses Grundprinzip, dass Kinder rasch in die Gesellschaft eingegliedert werden müssen, zieht sich durch die gesamte französische Erziehungs- und Bildungspolitik. Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Vorschulen und Ganztagsschulen, alles, was in Deutschland gerade erst mühsam aufgebaut wird, ist in Frankreich seit Jahrzehnten selbstverständlich. Mehr als 40 Prozent der französischen Frauen mit Vorschulkindern arbeiten in Vollzeit. Zum Vergleich: In Deutschland bleibt die Hälfte der Frauen mit Kleinkindern zu Hause, von den anderen arbeiten viele in Teilzeit und Minijobs. Und was noch auffällt: Je höher französische Frauen in der Karriereleiter klettern, desto mehr Kinder haben sie im Durchschnitt.
Zwar gibt es inzwischen auch in Deutschland erhebliche Anstrengungen, die Betreuung für Kleinkinder auszubauen. Doch dahinter steht nicht der Wunsch, die Kleinen in die Gesellschaft einzugliedern, sondern eher der Zwang, Berufs- und Karriere-Möglichkeiten für die Mütter zu schaffen. Dominik Grillmeyer vom Deutsch-Französischen Institut beobachtet, dass dieser gesellschaftliche Wandel von einer Art schlechtem Gewissen begleitet wird: "Da schwebt dann in Deutschland immer dieses Wort 'Rabenmutter' über allem", meint Grillmeyer. "In Frankreich ist es undenkbar, dass eine Frau dafür kritisiert wird, dass sie ihr Kind tagsüber abgibt."
Frankreichs Bevölkerungsschock
Doch auch in Deutschland verschwinden die Vorbehalte gegen die Kleinkinderbetreuung langsam aus der Gesellschaft. Nur noch in sehr konservativen Kreisen sperre man sich gegen die familienpolitischen Veränderungen, glaubt der Politikwissenschaftler Dominik Grillmeyer. Dort komme allerdings häufig noch die Angst dazu, dass die Kinder in staatlichen Einrichtungen zu liberal oder zu wenig christlich erzogen würden: "Diesen Vorbehalt gibt es, dass man sagt, ich bin besser geeignet, mein Kind zu erziehen. Ich werde es nicht in die Obhut des Staates geben, wo es möglicherweise indoktriniert wird."
Die Angst vor staatlicher Erziehung gehe zum Teil auf die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Bildungspolitik zurück, unterstreicht Grillmeyer. Solche gesellschaftlichen Traumata könnten sehr lange nach wirken. Auch die französische Familienpolitik habe ihre Anfänge in einem nationalen Trauma. Denn nach dem zweiten Weltkrieg habe man in Frankreich mit Entsetzen festgestellt, dass die Bevölkerung stagnierte, während Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts explosionsartig gewachsen war. "Das war ein Schock", sagt der Frankreichexperte, "deshalb war das erklärte Ziel, dass man die Geburtenrate nach oben bewegt." Damals wurden die Grundlagen für eine bevölkerungsorientierte Familienpolitik gelegt.
Kein Kindergeld für Einzelkinder
Noch heute honoriert der französische Staat kinderreiche Familien. Anders als in Deutschland gibt es beispielsweise für ein Einzelkind kein Kindergeld. Erst nach der Geburt eines zweiten Kindes haben die Eltern einen Anspruch, ab dem dritten Kind gibt es dann noch einen Zuschlag. Auch das Steuersystem belohnt besonders das dritte Kind, ab dem vierten zahlen französische Familien praktisch kaum noch Steuern.
Das französische Steuersystem macht es für Familien attraktiv, ein hohes Einkommen und viele Kinder anzustreben. Doch dieser Teil der Kinderförderung gerät nun unter Druck. Paris muss sparen. Nach anfänglicher Aufregung hat die Regierung schnell klargestellt, dass sie die Familienpolitik im Kern nicht antasten werde. Vor einigen Tagen hat sie nun beschlossen, für kinderreiche Familien lediglich Höchstgrenzen bei den Steuernachlässen einzuführen. Knapp zwei Milliarden Euro erhofft sich Präsident Hollande von dieser Maßnahme. "Die Reform ging bei den Anhängern der Linken gut durch", sagt Angela Greulich von der Pariser Universität Sorbonne, "weil nur die Reichen davon betroffen sind."
Vor allem an das flächendeckende Netz der Kinderbetreuung würde sich keine Regierung heranwagen, glaubt Dominik Grillmeyer vom Deutsch-Französischen Institut. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei den Franzosen einfach zu wichtig: "Unterm Strich sind eher in Deutschland größere Veränderungen bei der Familienpolitik zu erwarten als in Frankreich."