"Wir träumen französisch"
12. Januar 2015Die Synagoge in der Rue Pavée im von vielen Juden bewohnten Pariser Viertel Marais war am Montag voller Menschen. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve war am Mittag zu Besuch, um den Juden nach dem Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt und die Satirezeitung "Charlie Hebdo" die Unterstützung der Regierung zuzusichern. Cazeneuve kündigte nach einer Sitzung des französischen Kabinetts an, dass alle 717 jüdischen Gotteshäuser und Schulen in Frankreich bis auf Weiteres unter Polizeischutz gestellt würden. 4700 Soldaten und Polizisten werden dazu abgestellt. In Gesprächen in der Synagoge versuchte der Innenminister den tief verunsicherten Juden, etwas Hoffnung zu geben. "Die Angst für mich als Juden ist präsent, weil ich im Jahr 2015 nicht immer und überall meine Kippa tragen kann. Ich bin in meiner Freiheit der Religionsausübung eingeschränkt", sagte David Boukobza nach der Begegnung mit dem Innenminister im Interview mit der Deutschen Welle.
"Wir sind ein besonderes Ziel"
Seit dem Anschlag auf eine jüdische Schule im südfranzösischen Toulouse im Jahr 2012 trägt David Boukobza die religiöse Kopfbedeckung Kippa nur noch unter einem Hut oder einer Mütze versteckt. In Toulouse brachte ein französischer Islamist damals vier Menschen um. Seit Jahren nimmt die Zahl der judenfeindlichen Übergriffe und Anschläge in Frankreich zu, geht aus Statistiken des "Europäischen Jüdischen Kongresses" hervor. Seit Beginn des Jahrtausends hat sich die Zahl versiebenfacht. Der jüngste Anschlag in Paris ist der traurige Höhepunkt. "Wir Juden wissen, dass wir ein besonderes Ziel sind. Die Regierung kann solche Anschlagspläne nicht vereiteln, wenn es solche Einzeltäter, einsame Wölfe, sind. Man kann uns gar nicht wirklich schützen", sagte David Boukobza der DW.
Der oberste Vertreter der Juden in Frankreich sieht das ähnlich. Roger Cukierman, der Vorsitzende des "Rates der jüdischen Einrichtungen in Frankreich", hat am Gedenkmarsch der Millionen am Sonntag teilgenommen und fasste die Stimmung in diesem Satz zusammen: "Wir sind in einer Situation, die eine Situation des Krieges ist." Diese Analyse teilt auch ein weiterer Besucher der Synagoge im Marais an diesem Montag. Jonathan Bibas meint im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Juden werden zum Ziel, weil sie Juden sind. Ich persönlich fühle mich eigentlich sicher, aber die jüdische Gemeinde als ganze fühlt sich unsicher." Die jüdischen Verbände in Frankreich fordern schon seit längerer Zeit besseren Schutz durch den Staat, einen stärkeren Kampf gegen Antisemitismus und eine bessere Erziehung, gerade für die Jugendlichen aus muslimischen Familien.
"Jude ist ein Schimpfwort"
Roger Cukierman hat schon im Dezember 2014 in verschiedenen Interviews vor einer Verschärfung der Situation gewarnt. Damals hatten in Creteil drei Jugendliche ein jüdisches Paar überfallen, misshandelt und die Herausgabe von Geld gefordert. "Das Wort Jude ist in den Schulen der Republik ein Schimpfwort. Das ist sehr schlimm", beklagte Cukierman in einem Interview mit dem Fernsehsender BTMTV im Dezember. Die allermeisten der fünf Millionen Muslime, die in Frankreich leben, sind natürlich friedfertig, aber es gebe Auswüchse. Französische Soziologen haben eine Art populären militanten Islam ausgemacht, der besonders bei jungen Männern auf Interesse stößt. "Unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt es einige, die sich verbal alles herausnehmen. Das Internet ermöglicht es, völlig anonym Angriffe zu starten. Das Internet schafft eine Atmosphäre, in der alles erlaubt scheint", hat Roger Cukierman beobachtet. Als Beleg für den wachsenden Antisemitismus dient vielen Juden auch die Popularität des offen judenfeindlichen "Komikers" Dieudonné. Gegen Dieudonné wird aktuell ermittelt, weil er Sympathie für die Terroristen bekundet haben soll, die am Mittwoch zwölf Menschen vor und in der Redaktion von "Charlie Hebdo" ermordeten.
Nicht von ungefähr stammen die meisten radikalisierten Jugendlichen, die aus Europa nach Syrien reisen, um sich der Terrorgruppe "Islamischer Staat" anzuschließen, aus Frankreich. Vor der Synagoge im Pariser Marais-Viertel regt sich Jonathan Bibas auf, weil er glaubt, dass der französische Staat zu lange weggesehen habe: "Es gab ernste Sicherheitsversäumnisse. Die Geheimdienste haben ihre Arbeit nicht gemacht. Die USA und Israel haben Hinweise gegeben zu den Terroristen, aber die wurden nicht weiter verfolgt. Die Regierung muss mehr tun, damit sich die jüdische Gemeinde sicher fühlen kann."
Auswanderung nimmt zu
Rund eine halbe Million Juden lebt in Frankreich. Im vergangenen Jahr sind 7000 von ihnen nach Israel ausgewandert. die Zahl war doppelt so hoch wie im Jahr 2013, gibt die "Jewish Agency of Israel" in ihren Statistiken an. In diesem Jahr werden sogar 10.000 Einwanderer aus Frankreich in Israel erwartet. Nicht mitgezählt sind die jüdischen Franzosen, die in die USA oder Kanada gehen. Nicht alle verlassen ihre Heimat wegen des Antisemitismus, auch die Wirtschaftskrise spielt eine Rolle.
Nur wenige Juden sagen nach dem Anschlag auf den Supermarkt mit vier Todesopfern offen, dass sie dem Land nun den Rücken kehren wollen. Aber man denkt manchmal darüber nach, sagte David Boukobza der DW. "Ich liebe Paris, liebe mein Land und diese Straßen hier". David Boukobza zeigt mit ausladender Geste auf die Straßen im Marais-Viertel. "Das ist mein Leben, aber in meinem Hinterkopf gibt es den Gedanken, dass ich vielleicht eines Tages doch gehen muss."
Israel wirbt offen um französische Juden
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat bei einem Auftritt in der Großen Synagoge von Paris am Sonntag nach dem Trauermarsch alle Juden in Frankreich unmissverständlich zum Auswandern nach Israel aufgefordert. "Juden, die nach Israel kommen wollen, werden mit offenen Armen empfangen, mit all unserer Herzlichkeit. Sie werden nicht in ein fremdes Land kommen", sagte Netanjahu unter großem Jubel der Menschen in der überfüllten Synagoge. Am Montag besuchte er den Tatort eines der Anschläge, den Supermarkt mit koscheren Lebensmitteln. Dort hatte er die gleiche Botschaft, die dem Oberrabbiner von Frankreich, Haim Korsia nicht recht gefällt. "Wir haben dieses Land mit gebaut, wir werden weiter an ihm bauen. Wir träumen auf französisch. Wir denken auf französisch", sagte der Oberrabbiner vor Journalisten am Sonntag. "Natürlich ist Frankreich unser Land, aber ich werte die Worte des israelischen Ministerpräsidenten einmal als Ausdruck des Schmerzes und der Trauer. Was wir jetzt brauchen sind Worte der Zuversicht und der Hoffnung. Ich möchte den Juden in Frankreich sagen, dass man hier auch glücklich leben kann."
Wer geht, gibt auf
Die französischen Regierung möchte die aufkeimende Debatte über Gehen oder Bleiben eindämmen. Neue Anti-Terror-Gesetze werden auf den Weg gebracht. Frankreich ohne Juden wäre nicht mehr das Frankreich, das man kenne und wolle, sagte der französische Ministerpräsident Manuel Valls als Antwort auf das Angebot Netanjahus. Valls und auch der französische Präsident Francois Hollande bemühen sich in den letzten Tagen um eine klare Verurteilung jeder Form von Antisemitismus und kündigten konkrete Maßnahmen an. Das könnte, so meinen jüdische Vertreter, verloren gegangenes Vertrauen vielleicht wieder aufbauen. Jonathan Bibas, einer der Synagogenbesucher im Marais, denkt nicht, dass die meisten Juden gehen werden. "Man kann hier natürlich ganz gut leben. Zu gehen wäre nicht im Interesse Frankreichs."
Der jüdische Student David Boukobza sieht das im Marais ähnlich. "Diese Überlegung ist für mich ein Luxus-Problem. Wenn ich weggehe, bekomme ich als Pharmazie-Student keinen Job." Bereits beim Protestmarsch gegen den islamistischen Terror am Sonntag in Paris hielten viele Juden Schilder mit den Worten "Ich bin Jude in Frankreich" oder "Ich bin Charlie, Jude und Polizist" hoch. Wenn man jetzt ginge, so war die oft vorgetragene Meinung, dann hieße das ja, die Terroristen hätten gewonnen.
Der jubelnde Applaus mit dem der konservative Ministerpräsident Israels in der Großen Synagoge empfangen wurde, zeigt aber auch die große Verunsicherung vieler Juden. Als Netanjahu ans Rednerpult trat, zeigten sich die jüdischen Franzosen allerdings patriotisch. Spontan stimmten sie die "Marseillaise", die französische Nationalhymne an. Netanjahu lächelte und wusste nicht so recht, wie ihm geschah.
Die Toten bleiben übrigens nicht in Frankreich. Die jüdischen Opfer des Terroranschlags im Lebensmittelgeschäft werden auf Bitten ihrer Familien in Jerusalem und nicht in Frankreich beigesetzt, teilte das Büro von Premierminister Netanjahu in Jerusalem mit.