"Freiheitsberaubung von Liu Xia ist illegal"
9. August 2017Deutsche Welle: Wissen Sie, wie es Ihrer Mandantin Liu Xia geht?
Jared Genser: Leider wissen wir sehr wenig darüber. Nach der Beerdigung am 15. Juli ist sie ganz "unfreiwillig" verschwunden. Es gab in der Tat viele Meldungen über sie. Aber ihre engsten Freunde und Anwälte konnten sie nicht direkt erreichen. Wir machen uns große Sorgen um sie.
Nach Angaben der chinesischen Regierung ist sie ein freier Mensch. Aber in der Realität ist sie unfrei. Das brachte uns dazu, eine Petition bei der UN-Arbeitsgruppe zur Frage des gewaltsam verursachten bzw. unfreiwilligen Verschwindens von Personen (WGEID) einzureichen.
Was erhoffen Sie sich von der Petition?
Wir rechnen nicht mit einer schnellen Antwort durch China. Aber dieser Schritt ist trotzdem wichtig. Die Vereinten Nationen werden die Petition bearbeiten und eine offizielle Anfrage an die chinesische Regierung richten. Unabhängig davon, wie die Antwort lauten mag, wird sie mir zugestellt. Der Prozess kann ein langer, aber auch ein kurzer sein. Das hängt davon ab, wie schnell China reagiert.
Falls wir nicht innerhalb einer gewissen Zeit eine Antwort der chinesischen Seite erhalten, werden wir einen offiziellen Antrag bei der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen (WGAD) stellen. Wir würden das damit begründen, dass die freie Liu Xia seit mehreren Tagen verschwunden ist und möglicherweise von den chinesischen Behörden in Beugehaft genommen wurde. Dann müssten die Vereinten Nationen ein Ermittlungsverfahren einleiten und prüfen, ob China Völkerrecht gebrochen hat und ob die Inhaftierung von Liu Xia illegal ist.
Liegt Ihnen bereits eine Antwort der UN vor?
Nein.
Seit 2010 vertreten Sie das Ehepaar Liu als Rechtsanwalt. Wie kam der Kontakt zustande? 2010 wurde der verstorbene Nobelpreisträger Liu Xiaobo schon rechtskräftig verurteilt.
Liu Xia hat mir das Mandat erteilt, Liu Xiaobo international bei rechtlichen Fragen zu vertreten. Damals konnte sie noch frei mit der Außenwelt im Kontakt bleiben und durfte auch problemlos ihr Handy nutzen. Als ich direkt mit ihr sprach, war die Auszeichnung Liu Xiaobos mit dem Friedensnobelpreis noch nicht verkündet worden. Danach befand sie sich im dauerhaften Hausarrest.
Konnten Sie Liu Xia oder Liu Xiaobo persönlich treffen?
Nein. Liu Xiaobo saß bei der Erteilung des Mandats schon in Haft. Er durfte nur mit seiner Familie und seinen chinesischen Anwälten sprechen. Ich bleibe mit Liu Xia und ihren chinesischen Anwälten im ständigen Telefonkontakt.
Wie konnten Sie sich unter diesen schweren Bedingungen über den Zustand von Liu Xiaobo und Liu Xia informieren?
In den ersten Jahren des Hausarrests durfte Liu Xia monatlich ihre Eltern besuchen. Einige Journalisten konnten noch mit ihr kurze Interviews führen. Deswegen war es möglich, über ihre Eltern und die Medien an Informationen über Liu Xia zu kommen. Man musste sich die dürftigen Informationen wie ein Puzzle zusammensetzen.
Eine Woche vor der Verkündung des Nobelpreises hatte ich eine Diskussion mit Liu Xia darüber, was passieren würde, falls Liu Xiaobo den Preis erhalten sollte. Ich hatte sie gewarnt, dass es durchaus möglich wäre, dass sie auch mit inhaftiert wird. Dennoch entschied sie sich, in China zu bleiben. Sie hatte damals noch die Chance, das Land zu verlassen.
Jetzt arbeite ich weiter daran, dass Liu Xia ihren eigenen Wunsch erfüllen kann, China zu verlassen. Sie war nicht strafrechtlich belangt worden, stand nie vor Gericht. Es gab keine offizielle Anklage gegen sie. Sogar China sprach davon, sie sei ein freier Mensch. Ich bin der Meinung, dass ein freier Mensch in China nicht daran gehindert werden darf, mit seinen Freunden und Anwälten zu sprechen oder auf eigenen Wunsch das Land zu verlassen.
Zu ihren Mandaten gehörten auch andere Friedensnobelpreisträger wie Aung San Suu Kyi und Desmond Tutu. Was ist aber im Falle der Familie Liu anders?
Das Ausmaß der Verfolgung von Liu Xiaobo und Liu Xia ist erschreckend. Liu Xiaobo hat nichts Illegales gemacht. Er hatte die Charta 08 initiiert und als Erster unterschrieben. Darin forderte er die Abschaffung des Einparteienstaats und die Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems. Dafür hat er hohe Kosten zahlen müssen.
Die Regierenden in China sind sehr besorgt über die Stabilität im Lande und geben dafür 140 Milliarden US-Dollar aus. Im Vergleich dazu betragen die Militärausgaben nur 100 Milliarden. Man kann mit anderen Worten sagen, dass die chinesische Regierung im Vergleich zur Bedrohung aus dem Ausland noch größere Angst vor den eigenen Landsleuten hat. Deshalb der repressive Umgang mit Regierungskritikern.
Liu Xia wird ohne jeden Prozess die Freiheit genommen. Anderen Familienangehörigen wurde wegen erfundener Vorwürfe der Prozess gemacht. Das belastet meine Mandantin physisch und psychisch. Hinzu kommen der langjährige Hausarrest und der Verlust des Ehemannes. All das hat nur ein Ziel, nämlich, Liu Xia mundtot zu machen.
Das Interview führte Cui Mu.
Jared Genser ist Geschäftsführer der Rechtanwaltskanzlei Perseus Strategies LLC in Washington, D.C. und Gründer der Nichtregierungsorganisation Freedom Now.